taz.de -- Wissenschaftler über Gewalt in Rio: „Wir leben mit dieser Tragödie“

Der Politikwissenschaftler und Autor Luiz Eduardo Soares kritisiert die gewaltsame „Befriedung“ von Favelas in Rio. Der Alltag werde militarisiert.
Bild: Alltag seit April: Militär in der Favela Mare

taz: Herr Soares, vor der Fußball-WM wurden sogenannte Einheiten der Befriedungspolizei in zahlreichen Favelas von Rio de Janeiro installiert und die Drogenhändler vertrieben. Was halten Sie von dieser städtischen Sicherheitspolitik?

Luiz Eduardo Soares: Die Einsetzung dieser Einheiten, kurz UPP, ist weder universell noch hat sie eine nachhaltige Ausrichtung. Wo wurden diese UPPs denn eingerichtet? Vor allem in der bürgerlichen, touristisch interessanten „Südzone“ Rios. Es ist an Orten, die für die WM und die Olympischen Spiele Bedeutung haben, eine Art Sicherheitsgürtel errichtet worden. Es geht darum, ein positives Bild der Stadt zu verkaufen.

In wie vielen Favelas kamen die Einheiten zum Einsatz?

In rund 200. Im ganzen Stadtgebiet gibt es aber etwa 1.200 Favelas, also sind UPPs nur in rund einem Sechstel aller Favelas. Weil auch einige der größten wie Rocinha und Maré dabei sind, ist die Zahl der betroffenen Favela-Bewohner zwar größer, aber wir sind immer noch weit davon entfernt, dass sie die Hälfte aller „Favelados“ umfassen.

Sehen Sie denn in der Installation der UPPs auch etwas Positives?

Von der Idee her auf jeden Fall. Denn sie haben dem Prinzip der kriegerischen Invasionen ein Ende bereitet. Vorher sind bei diesen Aktionen regelmäßig Unschuldige durch Querschläger ums Leben gekommen. Und die beschlagnahmten Drogen und Waffen wurden anschließend häufig von korrupten Polizisten an die Banden oder an rivalisierende Fraktionen weiterverkauft. Statt mit Panzerwagen und Spezialeinheiten in die Favelas einzufallen, bleiben die Einheiten nun vor Ort.

In den von UPPs besetzten Vierteln wird aber zunehmend von Polizeiübergriffen berichtet, und Bewohner sprechen von einer Militarisierung ihres Alltagslebens.

Das stimmt, und das liegt an der Mentalität unserer Polizei: Sie müsste auch die Armen und Schwarzen aus den Favelas und der Peripherie als gleichberechtigte Bürger anerkennen. Dafür wäre eine radikale Umgestaltung unserer Polizei zu einer kommunitären, nachbarschaftlichen Polizei notwendig. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Die Militärpolizei ist trainiert, einen vermeintlichen Feind in den Armenvierteln zu bekämpfen.

Zumindest ist aber die Zahl der Morde in den kontrollierten Favelas Rios zurückgegangen.

Das stimmt, sogar deutlich – wenn ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr aber auch schon wieder angestiegen ist.

Eigentlich waren mit der Einrichtung der UPPs noch weitere Versprechungen verbunden.

Ja, die Stadt wollte sich auch um Bildung und Gesundheit kümmern und die Urbanisierung vorantreiben. Das ist nicht geschehen. Und weil die Polizei der einzige staatliche Repräsentant vor Ort ist, kommt es zu einer Militarisierung des Alltags. Es ist der zuständige Oberst der UPP, der nun darüber entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen zum Beispiel die populären „Funk“-Partys stattfinden dürfen.

Sie sagen auch, dass die UPPs zu einer Modernisierung des Drogenhandels beigetragen haben. Inwiefern?

Traditionellerweise funktioniert der Drogenhandel über die territoriale Kontrolle einer Comunidade. Man braucht Waffen und Helfer, die man trainieren und disziplinieren muss. Die jungen Bandenmitglieder wissen, dass sie im Durchschnitt nicht älter als 25 Jahre werden. Ihre Einnahmen müssen sie unter der Bettdecke verstecken, und ihr Viertel können sie kaum verlassen. Sie machen das allein wegen des Gefühls, mächtig zu sein. Die Dealer haben dazugelernt, benutzen flexible Handelswege und verkaufen die Drogen nun oft über Kuriere in der ganzen Stadt. Dafür braucht man keine Armee von schwer bewaffneten Ghetto-Jungs.

Dieser Wandel folgt einer rationalen ökonomischen Logik?

Ja. Aber auch für die Gesellschaft ist es gut, wenn es wegen Drogen keine bewaffneten Kämpfe mehr gibt. Und am besten wäre es natürlich, wenn Drogen irgendwann legalisiert würden – das ist derzeit aber politisch noch nicht umsetzbar. Zugleich ist Brasilien aber ein Land, das den Anspruch hat, eine moderne Demokratie zu sein. Die Menschen fordern inzwischen ihre staatsbürgerlichen Rechte stärker ein, und soziale Bewegungen haben an Bedeutung gewonnen. Da wollen sich auch nicht mehr alle von bewaffneten Jugendlichen vor der Haustür tyrannisieren lassen. Es gibt mehr Widerstand gegen die Banden ebenso wie die brutale Polizei. Gewalt war schon immer die Praxis der brasilianischen Polizei. Das Neue ist, dass die Gesellschaft allmählich aufwacht und diese Frage zum Thema macht. Polizeiübergriffe gibt es ständig. Und viele denken, sie seien gerechtfertigt, weil die Opfer es verdient hätten. Das hat mit unserem strukturellen Rassismus zu tun.

Systematische Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei sind also keine Erfindung?

Nein, die Ursachen liegen tiefer und fußen auf 450 Jahren Sklaverei. Aber die Militärdiktatur von 1964 bis 1988 hat diese Ausrichtung der Polizei selbstverständlich intensiviert – das liegt in der Logik eines militärischen Regimes. Neben den Armen und Schwarzen aus den Favelas und Arbeitervierteln kamen politische Oppositionelle, Studenten, Journalisten und Militante als Gegner hinzu, und die Überwachung wurde verschärft. Bis heute sind die Verbrechen der Militärs bei uns nicht aufgearbeitet worden, und ein Exgeneral kann sich öffentlich hinstellen und behaupten, dass unsere Staatspräsidentin Dilma nicht gefoltert wurde. Ich denke, einer gesellschaftlichen Versöhnung müsste eine historische Aufarbeitung vorausgehen, welche auch die Opfer öffentlich anerkennt. Wir haben diesen Schritt einfach übersprungen.

Und welche Rolle hat die Polizei nach der Militärdiktatur übernommen?

Da gerieten wieder die klassischen Opfer in den Mittelpunkt, und Übergriffe durch die Polizei blieben ein Unthema. Dabei zeigen wissenschaftliche Studien seit Jahren, dass die alltägliche Polizeigewalt eine institutionalisierte Praxis ist. Nur eine monströse Zahl als Beispiel: In den letzten zehn Jahren sind im Staate Rio de Janeiro über 10.000 Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen. Das ist eine danteske Zahl. Die Gesellschaft weiß davon, das führt aber zu keiner Revolte, zu keinen Massendemonstrationen oder Streiks. Die Brasilianer haben sich daran gewöhnt, mit dieser Tragödie zu leben. Immerhin ist die Gesellschaft seit einiger Zeit sensibler geworden.

Würde eine Demilitarisierung der Polizei helfen?

Dazu muss man wissen, dass die Zivilpolizei und die Militärpolizei der 27 Bundesstaaten die beiden wichtigsten Polizeien Brasiliens sind. Nach der Verfassung ist die Militärpolizei, zu der auch die UPPs gehören, für den Dienst auf der Straße in Uniform zuständig und die Zivilpolizei für die Ermittlungstätigkeit. Dabei ist die Militärpolizei formal eine Reserveeinheit der Armee. Dieser Verbindung muss ein Ende bereitet werden. So gilt zum Beispiel immer noch ein eigenes Strafgesetzbuch für die Militärpolizei, und kleinste Vergehen können mit absurden Strafen belegt werden.

Die Militärpolizisten in Brasilien dürfen keine eigenen Entscheidungen treffen. Wer das kritisiert, kann dafür monatelang inhaftiert werden, ohne dass er sich verteidigen darf. Solch eine militärische Struktur ist unvereinbar mit einer demokratischen Polizei in einer pluralen Gesellschaft.

Anmerkung der Redaktion: Eine Langfassung des Interviews finden Sie [1][hier].

31 May 2014

LINKS

[1] http://www.boell.de/de/2014/06/02/brasilien-eine-militaerische-struktur-ist-unvereinbar-mit-einer-demokratischen-polizei

AUTOREN

Schulz

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