taz.de -- Buch über Shoah-Überlebende in Polen: Erzählen jenseits der Schmerzgrenze
Zwölf Zeugnisse, die bis 1947 von Überlebenden der Shoah in Polen entstanden sind, liegen nun in Buchform vor. Ein bedeutendes Werk.
Viele Überlebende des Nationalsozialismus haben ihre Erfahrungen aufgeschrieben, oft Jahrzehnte später. Sie suchten dabei meist nach einer Sprache, mit der sie das Unsagbare halbwegs adäquat ausdrücken konnten. Einige, wie der israelische Historiker Otto Dov Kulka, fanden dabei eine Form des Schreibens, die den Lesern eine Ahnung von der Hölle der KZs und Ghettos vermittelt. Dennoch werden diese Erlebnisse für Außenstehende immer nahezu unvorstellbar und emotional unbegreiflich bleiben.
Mehrheitlich aber verdrängten jene, die sich vor der Ermordung durch die Nazis retten konnten, das Erlebte weitgehend, sie schwiegen, um sich und ihre Angehörigen vor der unerträglichen Erinnerung zu schützen. Vor allem schwiegen freilich auch die Täter, so dass viele Fakten über die damaligen Ereignisse bis heute verschleiert geblieben sind.
Umso bedeutender sind die Berichte von Zeitzeugen aus Polen, die Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Diestel der Öffentlichkeit jetzt erstmals auf Deutsch zugänglich gemacht haben. Es sind Aussagen von Überlebenden der Ghettos und Lager, die jüdische Historiker noch während des Krieges oder kurz danach zusammengetragen hatten. Diese Historiker hatten sich 1944 in Lublin zur „Zentralen Jüdischen Historischen Kommission“ zusammengetan, um die Shoah zu dokumentieren. Sie führten über 7.000 Interviews – „aufgrund ihrer frühen Entstehungszeit besonders authentische Quellen zur Geschichte der Shoah“, sagt der Historiker Wolfgang Benz.
1947 veröffentlichte das aus der Kommission hervorgegangene Jüdische Historische Institut das gesammelte Material auf Polnisch und Jiddisch in 39 Büchern und Broschüren. Die Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer sollten geahndet werden und nie in Vergessenheit geraten.
„Die Indolenz der deutschen Nachkriegsgesellschaft“
Das aktivste Kommissionsmitglied war offenbar der Schatzmeister Jósef Wulf. Im Jahr 1952 zog er nach Berlin, um sich dort für eine internationale Dokumentationsstätte zum Holocaust im Haus der Wannsee-Konferenz einzusetzen. Er stieß jedoch auf „die Indolenz der deutschen Nachkriegsgesellschaft und die Arroganz der Historiker“, so Benz, und beging 1974 Suizid.
Nur zwei Texte aus der Sammlung waren je auf Deutsch erschienen, die restlichen verstaubten unbeachtet in polnischen, holländischen, amerikanischen oder israelischen Antiquariaten. Vor einigen Jahren entdeckte der Chemiker Frank Beer einen Teil davon. Rasch überzeugte er Benz, seinerzeit noch Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, und die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Diestel, einige Texte auf Deutsch zu veröffentlichen.
Die nun vorgelegten zwölf Selbstzeugnisse – sie sind eine sorgfältige Auswahl der historiografisch bedeutsamen Dokumente unter den gefundenen Veröffentlichungen – sind nüchtern erzählt und in ihrer Direktheit sehr eindringlich. Darunter befinden sich die frühesten Aufzeichnungen über das Vernichtungslager Treblinka überhaupt, verfasst vom damals 25-jährigen Abraham Krzepicki, dessen Manuskript unter den Trümmern des Warschauer Ghettos begraben war.
Im Bericht über ihre Inspektionsreise nach Treblinka 1946 macht Rachel Auerbach sich bereits Gedanken über die Psychologie der Täter, und Ber Ryczywól, der Analphabet war, gibt zu Protokoll, wie er durch endlose Wanderungen übers Land „die Deutschen überlebte“. Seine Chronistin Bluma Wasser aus der Kommission betonte im Vorwort, sich um eine haargenaue Wiedergabe seiner Worte bemüht zu haben, um die Authentizität seines Narrativs nicht zu beeinflussen.
Grausamer Alltag
Die zwölf Augenzeugen erzählen sehr detailliert – über die Schmerzgrenze hinaus – vom grausamen Alltag in den Ghettos, Lagern und Zwangsarbeiterfabriken, sie berichten vom jüdischen Widerstand, dem Aufstand im Warschauer Ghetto und nicht zuletzt auch von vielen polnischen Helfern und Rettern.
Obwohl die Berichtenden ständig von exzessiver Gewalt, unfassbarer Demütigung und dem Tod bedroht waren, sind ihre Aussagen erstaunlich klar – und meistens sehr präzise. Wo nötig, haben die Herausgeber die Texte in Fußnoten kommentiert oder ergänzt, sie stellen zudem jeden Zeugen vor und beschreiben den Kontext seines Protokolls.
Bedauerlich ist, dass es bei der Fülle an Namen von Opfern, Tätern und Orten keinen Index gibt. Es ist den Herausgebern und den Verlagen Metropol und Dachauer Hefte indes uneingeschränkt zu danken, dass sie die beeindruckende Arbeit auf sich genommen und diese ersten Zeugnisse der Shoah in Polen veröffentlicht haben
18 Oct 2014
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