taz.de -- Obdachlosigkeit nimmt zu: Es wird kalt in der Stadt

Am 1. November beginnt wieder die Berliner Kältehilfe. Weil die Zahl der Obdachlosen steigt, schlagen die Organisatoren Alarm.
Bild: Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit tanzt vor dem Brandenburger Tor mit der ehemaligen Obdachlosen Heidi einen Tango. Für den Benefiz-Kalender 2015 der Berliner Stadtmission posierten verschiedene Prominente in Tanzposen

Immer mehr Familien wissen nicht, wohin in Berlin – und landen in der Notübernachtung für Obdachlose in der Moabiter Fraenklinstraße. Die meisten sind ausländischer Herkunft, kommen nachts oder am Wochenende. „In diesem Jahr hatten wir schon 600 Übernachtungen von Minderjährigen“, sagt Jürgen Mark, der Leiter der Einrichtung, am Freitag anlässlich der Eröffnung der 25. Saison der Berliner Kältehilfe. „Unser jüngster Gast war zwei Tage alt.“

Die Notübernachtung in der Fraenklinstraße, die als eine von zweien in Berlin ganzjährig geöffnet ist, sei mit 73 Betten für Männer und Frauen auf den Andrang nicht eingerichtet, erklärt Mark. Auf der Gästeliste stünden Menschen mit Drogen- oder psychischen Problemen, manche seien „strafrechtlich in Erscheinung getreten – unter ihnen wohl auch manch Pädophiler.

Mark sagt, der Ton sei rau, es gebe oft Spannungen und Streit. Auch seien die Sanitäranlagen nicht auf Familien eingerichtet. So könnte es passieren, dass ein Kind beim nächtlichen Toilettengang einen Drogentoten findet. „Einen solchen Todesfall hatten wir zuletzt im März, in einer Nacht, als drei Kinder im Haus schliefen.“ Marks Priorität ist daher klar: „Wir brauchen dringend eine Notübernachtung für Familien.“

Es wird wieder kalt in Berlin – und viele Institutionen stoßen an ihre Grenzen. Seit 25 Jahren bietet ein breites Netzwerk von Wohlfahrtsorganisationen, Kirchengemeinden und Projekten im Rahmen der Berliner Kältehilfe von 1. November bis 31. März nicht nur Übernachtungsplätze, „sondern auch ein offenes Ohr, etwas zu essen und soziale Hilfen“, erklärt die Direktorin der Caritas Berlin, Ulrike Kostka.

Dieses Angebot nehmen Jahr für Jahr mehr Menschen in Anspruch: In der Wintersaison 2009/10 gab es insgesamt 55.667 Übernachtungsplätze, 2013/14 mehr als 71.000 – und nie ist es genug. Seit Jahren liege die Auslastung bei mehr als 100 Prozent ergänzt Barbara Eschen, die Direktorin der evangelischen Konkurrenzorganisation Diakonie. Es kommen immer mehr Menschen, als es Schlafplätze gibt.

Auch in diesem Winter will die Kältehilfe daher aufstocken: von bislang durchschnittlich 417 Plätzen pro Nacht auf 500.

Die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales würde das auch finanzieren. „Aber es fehlt an geeigneten Räumen“, sagt Eschen. Sie appelliert deshalb auch an die Immobilienbesitzer der Stadt: „Welcher Eigentümer ist bereit, saisonal zu vermieten? Wer kennt ein Objekt, das infrage kommen könnte?“ Auch Senat und Bezirke seien aufgefordert, ihre Bestände zu überprüfen.

Der Ausbau der Kältehilfe scheint umso dringlicher, weil die Zahl der Obdachlosen offenbar weit höher ist als angenommen. Bislang ging man von 600 bis 1.000 Obdachlosen aus, doch eine systematische Erhebung des Senats gibt es nicht.

Die Berliner Stadtmission, die 42 Prozent aller Übernachtungsplätze stellt, habe allerdings in der letzten Kältehilfesaison in ihren Einrichtungen 2.300 verschiedene Personen beherbergt, erzählt Eschen. Es gibt also rund 1.800 Menschen, die durch das Kältehilfesystem mit seinen 500 Plätzen gar nicht erreicht werden. „Wo schlafen sie – und wie können wir sie besser erreichen?“, fragt die Diakonie-Direktorin.

Viele Armutsmigranten

Die Zahl der Obdachlosen steigt auch deshalb, weil immer mehr Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern in Berlins Straßen stranden: EU-BürgerInnen, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, Armutsmigranten. Sie alle konkurrierten um die Plätze in der Kältehilfe, sagt Kostka. „Wir befürchten, dass dies in diesem Winter weiter zunimmt“ und die Kapazitätsprobleme und auch die Spannungen in den Einrichtungen zunehmen.

Vor diesem Hintergrund mahnt die Caritas-Chefin den Senat an, die „Frostschutzengel“ weiter zu finanzieren. Das Projekt, bislang von Stiftungsgeld und Spenden finanziert, bietet eine soziale Beratung speziell für Osteuropäer an. Nun stehe man vor dem Aus, weil die Stiftung nicht mehr einspringen wolle, die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales jedoch eine Regelfinanzierung ablehne, erklärt Marie-Terese Reichenbach, Leiterin der Frostschutzengel. „Wenn nichts passiert, ist dies unsere letzte Kältehilfesaison.“

31 Oct 2014

AUTOREN

Susanne Memarnia

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