taz.de -- Anton Hofreiter und seine Grünen: „Niemand hat Angst vor der Mitte“

Witze über Grüne? Bitte nicht! Hü und hott in der Grünen-Führung? Keine Spur! Vor dem Bundesparteitag wirkt der Fraktionschef angespannt.
Bild: Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen: Anton Hofreiter

taz: Herr Hofreiter, haben Sie als linker Grüner Angst vor der Mitte der Gesellschaft?

Anton Hofreiter: Niemand bei den Grünen hat Angst vor der Mitte der Gesellschaft. Ich finde es toll, wie sich die Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat. Daran waren wir Grüne so stark beteiligt wie wenige Parteien in den letzten 20 Jahren.

Ist das nicht eine Autosuggestion, dass die Grünen so viel verändert haben?

Überhaupt nicht. Wenn Sie an Atomausstieg, Gleichberechtigung der Frau, Umgang mit Homosexualität und anderes denken, da haben wir stark eingewirkt. Aber es bleibt noch viel zu tun.

Die Sorge, die Grünen hätten noch zu viel Angst vor der Gesellschaft und bräuchten mehr Mut zum Mainstream, wurde von Ihren hessischen Freunden in einem Parteitagsantrag geäußert. Sehen Sie sich selbst als Teil des Mainstreams?

Was ist für Sie Mainstream? Die Mehrheitsmeinung oder die Position, die möglichst wenig aneckt? Grüne haben dazu beigetragen, dass Minderheitsmeinungen Mehrheiten erhalten, insofern haben wir Grüne einen Mainstream geprägt. Aber es gibt Bereiche, in denen weiterhin massive Veränderungen notwendig sind und wir als progressive Partei im Konflikt mit dem sogenannten Mainstream bleiben. Denken Sie an das undemokratische Freihandelsabkommen TTIP, an Kohlekraftwerke, an Massentierhaltung.

Vielleicht können wir zur Auflockerung einen Witz an Ihnen testen?

Bitte nicht …

Warten Sie ab. Er kommt aus dem Grünen-Milieu und kursiert seit der OB-Wahl in Tübingen. Was ist der Unterschied zwischen Jürgen Trittin und Boris Palmer?

Oje. Die beiden haben es Ihnen angetan.

54 Prozent. Ist da ein Körnchen Wahrheit drin?

Nein. Kommunalwahlen und Bundestagswahlen lassen sich schwerlich vergleichen. Ich komme selbst aus einem Landkreis, wo sich eine grüne Bürgermeisterkandidatin gegen einen respektablen CSU-Kandidaten mit 70 Prozent durchgesetzt hat.

Auch eine Reala?

Ach, diese Flügelgeschichten spielen in Bayern keine große Rolle. Sie könnten ja genauso gut sagen: Alle Bundestagsabgeordneten sollten es so machen wie Hans-Christian Ströbele, dann würden sie auch direkt gewählt. Das ist genauso albern.

Haben Sie manchmal Angst vor Ihrem Vorgänger Trittin?

Das ist eine groteske Frage.

Warum ist die grotesk?

Weil es totaler Quatsch ist.

Seit Trittin Baden-Württemberg als grünes Waziristan bezeichnet hat, den Rückzugsort der Taliban, haben Sie kein Wort darüber verloren, ob Sie das angemessen fanden.

Es ist ab und zu klug, nicht jede Scheindebatte zu kommentieren und damit noch höherzuhängen.

Ist das Ihre Führungsstrategie: nicht zu allem Unsinn auch etwas zu sagen?

Ich sage etwas zu den relevanten Themen. Sehen Sie, ich war zu der Zeit in New York und habe mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz über Auswege aus der Eurokrise gesprochen. Wenn dann so etwas kommt, denkt man sich: Ach Gott, haben wir keine anderen Probleme. Ich erwarte aber, dass wir grundsätzlich gut mit- und übereinander reden.

Bei dem permanenten Hü und Hott der Grünen-Führung – sollte Ihre Zurückhaltung da nicht stilbildend sein?

Meine Kofraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, der Fraktionsvorstand und ich arbeiten sehr gut zusammen. Da kann ich kein Hü und Hott erkennen.

Und an der Parteispitze?

Ich würde Diskussionen um Fragen wie Außenpolitik oder Militäreinsätze nicht überbewerten, das ist bei uns traditionell so. Die müssen wir austragen.

Aber die Parteivorsitzenden schicken ihre Bodentruppen doch häufig verbal gegeneinander los.

Bestimmte inhaltliche Auseinandersetzungen gehören einfach zu einer Neuaufstellung. Das muss man viel gelassener sehen.

Sie sehen alles gelassen?

Ich bemühe mich. Uns Grünen wird ja vorgeworfen, wir würden uns immer über alles aufregen.

Auf einer Skala von 1 bis 10, wie gut funktioniert die Fraktionsspitze?

Wenn 10 positiv ist, dann 9,5.

Und die Parteispitze.

10.

Guter Witz. Der Parteitag ist jedenfalls komplett darauf ausgerichtet, wieder den Eindruck von Harmonie und Ruhe zu verbreiten. Richtig?

Der Parteitag ist darauf ausgerichtet, inhaltliche Fragen zu bearbeiten.

Wirklich?

Wir diskutieren Außenpolitik, Massentierhaltung, Flucht und Asyl – und zwar nicht im Rückblick, sondern perspektivisch. Das sind drei zentrale Probleme der Zeit. Dazu kommt die Debatte zur Freiheit.

Eigentlich sollte es keine Richtungsdebatte beim Parteitag geben, nun haben einige Länder sie doch reingetragen. Was spricht überhaupt dagegen?

Es spricht nichts gegen eine Strategiedebatte, nur haben wir diese bereits geführt. Wir haben nach der Wahl eine Fehleranalyse gemacht, im Oktober 2013 beim Bundesparteitag und im Mai 2014 beim Länderrat Beschlüsse dazu gefasst. Der Antrag aus Hessen, auf den Sie anspielen, fügt dem nichts Neues hinzu. Zum einen behauptet der Antrag, die Grundsatzdebatte sei nicht geführt. Das ist falsch. Und er malt die Situation zu schwarz. Als ich Fraktionsvorsitzender geworden bin, hätte ich nie erwartet …

… dass die Grünen jetzt bei 9 Prozent stehen …

… dass wir bei der Europawahl zweistellig abschneiden, die Kommunalwahlen gut bestehen und weiter in allen 16 Landtagen vertreten sind.

Sind Sie zu bescheiden?

Ich will nicht irre Erwartungen, sondern gute Ergebnisse. Und die Ergebnisse sind nicht schlecht.

Dass die Wahlkampf-Fehleranalyse bereits abgeschlossen ist, haben Sie exklusiv.

Ich glaube eher, Sie haben die eben genannten Debatten und Beschlüsse verpasst. Die Grünen haben sich auf eine Strategie der Eigenständigkeit geeinigt, rücken die Ökologie wieder stärker ins Zentrum, verbinden sie mit Gerechtigkeit. Wir zielen auf eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und diskutieren Themen, die im Trend liegen – beispielsweise Zeitsouveränität und eine Agrarwende für gesundes Essen.

Sind Sie dafür, dass die Grünen 2017 mit Steuererhöhungen in den Wahlkampf ziehen?

Da haben wir einen klaren Zeitplan für die einzelnen Steuerthemen. Ein zentrales Problem des letzten Wahlkampfs war, dass unser Steuerkonzept zweieinhalb Jahre vor der Wahl festgeklopft wurde und sich die ökonomische Situation dann geändert hat. Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen.

Sie haben aber doch auch Ihre Wählerschaft falsch eingeschätzt.

Zum Teil wurden die Wähler falsch eingeschätzt, ja. Aber mit dem Rückblick ist jetzt langsam mal Schluss. Wir wollen die Grünen als Zukunftspartei profilieren.

Und wie? Haben Sie konkrete Beispiele?

Nachhaltige Mobilität, Bildung, ökologischer Umbau der Industrie, ökologische Finanzreform. Gerechte Handelsordnung statt dem aktuell geplanten TTIP.

Was, wenn grüne Länder am Ende TTIP unterm Strich positiv bewerten?

Grüne in Bund und Ländern werden die Verhandlungen gemeinsam begleiten. Uns allen ist klar, dass das Handelsabkommen völlig anders gestaltet werden muss.

Sie sehen die Grünen als progressive Kraft. Die Mehrheit der Gesellschaft will aber doch gar keine progressive Politik …

Die Mehrheit der Gesellschaft wollte vor ein paar Jahrzehnten keine Gleichberechtigung für Frauen und Homosexuelle, keinen Atomausstieg und keine doppelte Staatsbürgerschaft. Interessant, dass man die taz daran erinnern muss. Andere Mehrheiten sind möglich. Es gibt auch heute Bedarf für progressive Politik.

Aber doch nicht bei den Wählern. Beruht der Erfolg der baden-württembergischen Grünen nicht auf dem Versprechen, behutsam den Status quo zu moderieren?

Nein, der Erfolg der baden-württembergischen Grünen besteht darin, die Realität zu verändern. Nehmen Sie den Streit um den Nationalpark Schwarzwald, die Kämpfe von Umweltminister Franz Untersteller um Windräder oder den Streit über den Bildungsplan für sexuelle Vielfalt. Da geht es doch nicht um Verteidigung des Status quo, das ist progressive Politik.

Das urgrüne Lager findet das viel zu wenig.

Man wünscht sich immer mehr. Aber die Behauptung, die baden-württembergischen Grünen veränderten nichts, ist eine Diffamierung.

Die neue grüne Unabhängigkeit heißt, womöglich mit CSU-Kollegen in einem Kabinett zu arbeiten. Ist das für Sie persönlich eine positive Vorstellung?

Das ist keine politische Kategorie. Die SPD ist übrigens auch keine einfache Partei. Natürlich hilft es, wenn man mit den Leuten klarkommt, aber darum geht es nicht. Ich mache Politik, um die Realität im positiven Sinne zu verbessern. Nicht, um mich gut zu fühlen.

Das klingt sehr naturwissenschaftlich.

Ich bin Naturwissenschaftler.

Nicht mal bei CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt irgendwelche Befindlichkeiten?

Bei Herrn Dobrindt kommen schon Befindlichkeiten auf, aber die sind inhaltlicher Natur, weil Herr Dobrindt sich als unfähiger Verkehrsminister erweist. Verkehrspolitik war mein Fachthema. Der Bereich ist wichtig für Klimaschutz, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, und es ärgert mich, dass das Ressort seit Jahren verramscht wird an Politiker, die keine Ahnung haben oder sich für das Thema überhaupt nicht interessieren.

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann hat die Grünen soeben als Wirtschaftspartei neu positioniert. Gut so?

Ich hätte vielleicht nicht den Begriff der „klassischen“ Wirtschaftspartei gewählt, aber was Winfried Kretschmann dazu gesagt hat, kann ich in vielem unterschreiben.

Die Grünen sind also jetzt eine Wirtschaftspartei?

Die Grünen sind im Zentrum eine ökologische Partei. Und wer die Wirtschaft ökologisch umbauen will, muss sich natürlich damit auskennen. Mit Teilen der Wirtschaft arbeiten wir gut zusammen. Mit anderen Teilen sind wir in einem intensiven Dialog, etwa Autoindustrie und Maschinenbau. Und dann gibt es Bereiche, mit denen sind wir im Konflikt - etwa die Bereiche, die Braun- und Steinkohle weiter fördern wollen.

Teile der Grünen lehnen die Idee der Wirtschaftspartei ab.

Wir lehnen die Idee einer Klientelpartei für Unternehmensverbände oder einer bloßen Steuersenkungspartei ab. Das hat auch Winfried Kretschmann klar gemacht. Im Grunde ist diese Debatte, schon vor vielen Jahren entschieden worden, spätestens zu rot-grünen Zeiten.

Bei Ihnen ist alles immer schon längst entschieden.

Das ist doch gar nicht so kompliziert. Natürlich gab es vor der letzten Bundestagswahl zum Teil einen falschen Sound. Aber zentral ist für uns die ökologische und soziale Transformation der Wirtschaft durchzusetzen, um Probleme wie Klimaschutz, Artensterben, Verschmutzung des Grundwassers in den Griff zu bekommen.

Müssen die Grünen nicht eine Wirtschaftspartei sein, wenn sie die ökologische Transformation Ernst meinen?

Wer die ökologische Transformation ernst meint, weiß dass sie nur funktioniert, wenn es gerecht zugeht und wenn sie nicht wirtschaftlichen Wohlstand zerstört. Das heisst noch lange nicht dass man nach der Pfeife von Unternehmensverbänden oder Gewerkschaften tanzt. Wir sind kein verlängerter Arm irgendwelcher Lobbys.

19 Nov 2014

AUTOREN

Astrid Geisler
Peter Unfried

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