taz.de -- Essay Atompolitik der Ukraine: Der Traum vom Nuklearen

Das Land ist heute noch vom Erbe der Sowjetunion geprägt. Die Begeisterung für Atomkraft hat die politischen Umbrüche bruchlos überdauert.
Bild: In der Atomanlage in Saporischschja: Ende 2014 wurde hier ein Alarm ausgelöst (Archivbild, 2013).

Nach der Annexion der Krim beschränkte sich die russische Armee darauf, die örtlichen Aufständischen und die aus ganz Russland herbeigeeilten Kämpfer im Donbass zu unterstützen, ohne einen wirklichen Eroberungskrieg zu unternehmen. Offenbar ist Russland militärisch so schwach, dass es in den rebellischen Operettenrepubliken nicht einmal in seinem Sinne Ordnung schaffen kann. Wenn in der EU und der republikanischen Opposition in Amerika militärische Härte eingefordert wird, ist das rational vertretbar. Für Westeuropa verhängnisvoll wären die Folgen eines richtigen Krieges gleichwohl, denn Russland ist immer noch eine starke Atommacht.

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 wurde die Ukraine zur nach den USA und Russland drittgrößten Atommacht der Welt. Nachdem die USA, Großbritannien und Russland 1994 in Budapest der Ukraine gesicherte Grenzen zugesagt hatten, übersandte sie Russland bis 2002 nach und nach ihre Atomwaffen. Gegenstimmen gibt es gerade jetzt: Man hätte die Raketen behalten und sie nach Osten drehen sollen. Forderungen, die Produktion von Atomwaffen wiederaufzunehmen, wurden im Westen bislang ignoriert.

Unrealistisch wären sie aber nicht. Denn in der Ukraine wurden Mittelstrecken- und Langstreckenraketen einschließlich ihrer atomaren Sprengköpfe industriell gefertigt und in Stellung gebracht. Die entsprechende Kompetenz gehört zum sowjetischen Erbe der ukrainischen Wissenschaftler und Techniker.

Im zivilen Bereich ist dieses sowjetische Erbe noch präsenter. Die Begeisterung für Atomkraftwerke und die Überzeugung, sie seien fast vollkommen sicher, haben die politischen Umbrüche bruchlos überdauert. Alle politischen Richtungen der Ukraine unterstützen die Modernisierung und den Ausbau der Atomanlagen. Der GAU von Tschernobyl im Jahre 1986 löste keine wahrnehmbaren Gegenströmungen aus.

Heute erscheint er sogar als Vorteil: Die fast menschenleere Sperrzone um die seit 2002 abgeschalteten Reste der Anlage soll nun für Wiederaufbereitungsanlagen und die Zwischenlagerung von strahlendem Müll genutzt werden. Der Konflikt mit Russland hat das Atomprogramm kaum irritiert oder verzögert. Russland hat mit der Annexion der Krim ohnehin nur einen kleineren Forschungsreaktor in Sewastopol erworben. Die großen Anlagen liegen weit außerhalb der Sezessionsgebiete.

Die Ukraine, bettelarm

Fast 50 Prozent der ukrainischen Energie kommen heute aus 15 Reaktoren auf vier Standorten: Riwne, Saporischschja, Chmelnyzkyj und „Südukraine“ bei Mikolajiw. Der Reaktor 6 in Saporischschja hatte am 28. November einen offenbar kleineren Störfall, [1][der die Medien erreichte]. Er ist der größte Reaktor in Europa; der zweitgrößte befindet sich im französischen Gravelines bei Dünkirchen. Überall sind Reaktoren seit den frühen achtziger Jahren im Betrieb, teilweise auch neuere; der letzte wurde 2004 in Chmelnyzkyj angefahren. Viele müssen allerdings nach europäischen Normen erneuert werden, neue werden gebaut oder sind geplant.

Die bettelarme Ukraine kann das alles aber nicht finanzieren. Die EU steht mit großzügigen Krediten bereit. Zuständig für die ukrainische Atomwirtschaft ist seit 2006 die Holding Ukratomprom, die dem Energieministerium untersteht. Sie bündelt sechs staatliche Unternehmen, deren wichtigstes Energoatom ist, das seit 1996 rundum für die Atomkraftwerke zuständig ist – von der Projektierung über den Bau und die Sicherheit bis hin zur Ausbildung.

Bis 1991 war die ukrainische Atomindustrie vollständig in die sowjetischen Strukturen integriert. Die Anlagen entsprachen nur in einem Fall dem Bautyp des Unglücksreaktors von Tschernobyl. Technisch bestand die Sowjetunion also weiter. Die Brennstoffe und der Atommüll wurden entsprechend logistischen Planungen hin- und hertransportiert. Dieser sowjetische Zusammenhang umfasste – in kleinem Maßstab – auch die ehemaligen Satellitenstaaten, die die grundsätzliche Atombegeisterung beibehielten. Sie widersprach ja auch nicht den europäischen Strategien – sieht man von Deutschland und Österreich ab.

Loslösen aus sowjetischen Zusammenhängen

Als die Sowjetrepubliken von Verwaltungseinheiten zu Nationalstaaten mutierten, wurden bislang innerstaatliche Zusammenhänge zu solchen grenzüberschreitenden Austauschs. Die Ukraine war nicht besser oder schlechter als Russland, sie war sowjetisches Kerngebiet. Nun exportierte die Ukraine Uran nach Russland, wo es aufbereitet und zurückexportiert wurde. Russland verkaufte Anlagen an die Ukraine, die Ukraine andere nach Russland, zum Beispiel Turbinen.

Mit den Nationalstaaten entstanden nicht nur zollrechtliche, sondern auch monetäre Fragen. Was vorher nur betriebswirtschaftlich kalkuliert wurde, erschien nun zusätzlich als Problem internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Und zu deren Erleichterung schienen die Beziehungen zur EU und die zu Russlands angestrebter „Eurasischer Wirtschaftsunion“ naheliegend, aber inkompatibel – unabhängig vom scheußlichen Charakter Putins oder der widerlichen Dekadenz des Westens.

Wie beim Erdgas gab es für Russland keinen Grund mehr, nur subventionierte Inlandspreise zu fordern. Im Kapitalismus erwirtschaftet man Gewinne. Die Gegenforderung nach „gerechten Preisen“ ist marktwirtschaftlich keine denkbare Größe. Damit war es aus westlicher Perspektive klar: Die Ukraine musste auch atomar aus den sowjetischen Zusammenhängen gelöst werden, ohne den Ausbau der AKWs zu behindern.

Schlüsselbegriff Diversifikation

Bemerkenswert war dabei, wie diskret dieser Gegensatz behandelt wurde. Selbst nationalistische Politiker interpretierten den GAU von Tschernobyl nicht als versuchten russischen Genozid an den Ukrainern. Den Anlagen in der Ukraine wurde auch keine typisch russische Schlamperei oder technische Inkompetenz vorgeworfen. Das hätte unnötige Sorgen vor weiteren Katastrophen oder Zweifel an der Atomtechnik wecken können.

Ein Schlüsselbegriff der Auseinandersetzung war und ist Diversifikation: Ein einzelner Anbieter schafft zu große Abhängigkeiten, ohne Wettbewerb kein Markt. Daher verlangte die EU, die Länder, die bislang nur auf russische Technik ausgerichtet waren, sollten auch andere Anbieter in Betracht ziehen. Russische Firmen sollten nur gewählt werden, wenn westliche keine entsprechenden Produkte anböten.

Einziger ernsthafter Wettbewerber war dabei die amerikanische Firma Westinghouse Electric, die seit 2006 zum japanischen Toshiba-Konzern gehört. Sie ist wie ihre russische Konkurrenz, die Holding Rosatom, rundum zuständig: darunter für die Projektierung, den Bau, die Sicherheit, den Rückbau und die Ausbildung. In der EU hängt die Hälfte aller AKWs von Westinghouse-Technik ab; 54 der 58 französischen AKWs arbeiten mit Westinghouse-Lizenzen. Die Brennstäbe werden in Schweden und Großbritannien gefertigt. Für die Durchsetzung der Diversifizierung setzte sich das Unternehmen vor allem in Brüssel ein. Anders als Bulgarien oder die Slowakei gehört die Ukraine zwar noch nicht zur EU, aber sie richtet sich, soweit möglich, schon nach deren Vorgaben.

Russland als starker Konkurrent

Bis 2007 produzierte Westinghouse Brennstäbe auch für den russischen Reaktor WWER-440. Dann konnte es preislich nicht mehr mit dem russischen Anbieter konkurrieren, weil, wie der plausible Vorwurf lautete, die russische Seite durch verschleiernde Preisgestaltung eine Dumpingstrategie verfolge. Also solle die EU in ihrem Herrschaftsbereich für saubere Regeln sorgen, die Diversität garantierten; bei der Gestaltung der EU-Regeln können kompetente Firmenvertreter beraten.

Russland indes sorgt sich um mögliche technische Gefahren. So hätten ukrainische Ingenieure Westinghouse vorgeworfen, dass seine Brennstäbe mit quadratischer Grundfläche nicht in die Reaktoren russischer Bauart passten, die für sechseckige Brennstäbe vorgesehen seien. Westinghouse warf den Ingenieuren technische Inkompetenz vor.

In der globalen Atomwirtschaft ist Russland trotz seiner sonstigen ökonomischen und militärischen Schwäche ein starker Konkurrent. Auch wenn seine Vormacht in der Ukraine und der östlichen EU zu bröckeln beginnt, ist es auf den einschlägigen Märkten dynamischer vertreten als die großen westlichen Atomnationen – so in der Türkei, dem Iran, in Indien und selbst in China. Nach Einschätzung des US-Handelsministeriums baut Russland etwa 37 Prozent der neuen Atomanlagen auf der Welt, China 27, die USA nur 7 und Frankreich 8 Prozent. Russland selbst will seine eigene Produktion erheblich steigern – bis 2030 auf 25 Prozent seiner Energieproduktion. Die Zahl der AKWs soll dafür von 31 auf 59 erhöht werden.

Deutschland spielt wegen seiner Energiewende bei alldem keine Rolle. Den Widerstand gegen diese Wende aber wird die Ukraine nach ihrem Beitritt zur EU erheblich verstärken.

2 Jan 2015

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Stölting

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