taz.de -- Kolumne Liebeserklärung: Je suis Houellebecq
Viele nennen Michel Houellebecq wegen seines neuen Buchs „Unterwerfung“ einen geistigen Brandstifter. Wer das macht, ist ein Heuchler.
Provokateur, Islamhasser, Irrer, Zündler – der Vorwurf, Michel Houellebecq sei mitverantwortlich für das Attentat und die antimuslimischen Reaktionen, die das Attentat hervorruft, war schneller im Raum, als ein normaler Leser ein Kapitel, geschweige denn die 322 Seiten des Romans hätte lesen können.
Empörte Nichtleser kannten nur das Setting: Frankreich im Jahr 2022. Eine muslimische Partei stellt den französischen Präsidenten, der von der Linken unterstützt wird, um die Kandidatin des Front National zu verhindern. Das reichte vielen, um dem Autor zu unterstellen, er bediene rassistische und islamophobe Klischees und inszeniere eine Schreckensvision, die den Rechten von Front National bis Pegida Munition liefere.
Rezensenten, die das Buch gelesen haben, sprechen eine andere Sprache. Houellebecq selbst spricht eine andere Sprache. Warum es so schlimm sei, sich vorzustellen, dass sich französische Muslime in Zukunft in einer politischen Partei organisieren würden, wenn sie sich in Frankreich nicht vertreten fühlten, fragt der Autor. Rezensenten meinen, dass in „Unterwerfung“ sogar eher die Vision einer Rettung denn die eines Untergangs des Abendlands gesehen werden könne.
Wer Houellebeqc einen Skandalautor nennt, der nur vorsätzlich provoziere, der sollte de Sade, Rimbaud, Baudelaire, Balzac aus seiner Bibliothek entfernen oder mal lesen. Wer über die brave, bauchnabelzentrierte Literatur in Deutschland klagt, muss sich einen deutschen Houellebeq wünschen.
Wer sich „Je suis Charlie“ auf Facebook und Twitter klebt und Houellebecq als geistigen Brandstifter bezeichnet, ist ein Heuchler. Houellebecq ist der Charlie Hebdo der zeitgenössischen französischen Literatur. Houellebecq ist der Charlie Hebdo der europäischen Literatur. Je suis Houellebecq.
10 Jan 2015
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