taz.de -- Sechstagerennen in Berlin: Radeln, bis es wehtut

Ein "Flieger" wie Walter Rütt täte den Sixdays gut. Berlins einstiger Bahnrad-Superstar fuhr 933 Siege ein - und doch geriet er in Vergessenheit.
Bild: Da braust er: Radlegende Walter Rütt.

Die Rennen sind hart und ebenso hart die Zeiten. Das Jahr 2015 stellt das 104. Sechstagerennen im Berliner Velodrom vor große Herausforderungen. Zu große vielleicht, wie manche fürchten: „Ist der Startschuss durch den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) der letzte?“, fragte in dieser Woche besorgt das Boulevardblatt B.Z.

Denn die Kosten von 2 Millionen Euro drücken die Sixdays. Veranstalter Reiner Schnorfeil hat angekündigt, teure Livemusik à la Frank Zander vom Parkett zu nehmen – und die ganz großen Namen aus dem Fahrerlager fehlen. Hans Pirius kennt vielleicht die Rennradszene, aber nicht das Milieu oder die feine Gesellschaft an der Bahn. Doch Namen machen das Berliner Sechstagerennen und seine Atmosphäre letztendlich aus. Namen wie Walter Rütt beispielsweise.

Als vor 90 Jahren Walter Rütt seinen letzten Titel im Sechstagerennen gewann, bebte der Berliner Sportpalast. Insgesamt 933 Siege im Radsport hatte Rütt bis 1925 eingefahren, Weltrekorde im „Fliegen“ aufgestellt und fünfmal die Sixdays gewonnen – ein Rekord damals. Rütt war Berlins einziger wirklicher Radsuperstar. Die Massen liebten ihn, Rütt war das Sportereignis in den Goldenen Zwanzigern.

Der beste „Flieger“ der Welt

Der Radrennfahrer Walter Rütt (1883–1964) kommt in Morsbach bei Aachen zur Welt und radelt als junger Spund mehr aus Jux denn zur Übung durch die Kleinstadt. 1899, mit 16 Jahren, wird Rütts Talent entdeckt, mit 17 ist er Profi, fährt „Fliegerrennen“, so heißen die Bahnradsprints damals. Ab 1904 ist er der beste „Flieger“ der Welt. Pneu- und Velohersteller wie Peugeot, Torpedo oder Continental nehmen den Bahnradler unter Vertrag.

Fliegerrennen in jener Zeit waren akrobatische, todesmutiges Spektakel, die schwere Stürze kannten. Rütt ist mutig, bringt 60 Kilometer pro Stunde und mehr auf die Bahnen in Köln, Frankfurt oder Paris – und er bleibt im Sattel. Dass der „König des Rades“, wie er genannt wird, so gut ist, verdankt er seiner Kraft und Ausdauer sowie einer ausgezeichneten Technik. Am stärksten ist Rütt beim Schlussspurt. Bis auf die Tour de France fährt er alle Rennen: Straßenrennen, Sechstagerennen, Meilenrennen, Verfolgungsrennen, aber hauptsächlich Sprints. Rütt ist 1913 Weltmeister, dann Vize-Weltmeister, bis 1925 holt er im „Fliegerrennen“ Deutsche Meisterschaften in Serie. Er fährt in Berlin, New York und Melbourne.

Die Kollegen, etwa Jack Clark (Australien), John Stol (NL) oder Emile Aerts (B), haben nicht nur Respekt vor Rütt, er gilt auch als sympathischer Sportsmann mit seinen verschmitzten Augen und dem Lockenkopf. Noch vor dem Ersten Weltkrieg übersiedelt er nach Berlin, wo die sportbegeisterte Reichshauptstadt ihn verehrt. Fährt Rütt, gerät das zum gesellschaftlichen Ereignis.

Nach seinen letzten Sixdays im Berliner Sportpalast – Rütt hängt für die Fotografen sein Rad an den berühmten Nagel – verliert er jedoch die Rennen des Lebens. Seine Radler-Kneipe in der Potsdamer Straße läuft schlecht. 1926 baut Rütt mit dem US-Promoter Milton & Chapman am Tempelhofer Feld die „Rütt-Arena“, ein Radstadion mit Tribünen für 11.000 Besucher und einer 250 Meter langen und schnellen Holzbahn.

Das große Velodrom am Flughafen wird zu Rütts Albtraum. Läuft es anfangs noch mit der Arena, geht es ab 1930 geschäftlich bergab. Die Ära der Bahnradsprints ist zu Ende. Pech kommt hinzu, Rennen fallen zudem oft wegen des schlechten Wetters aus. Wenn es damals in Berlin regnete, spottete der Volksmund: „Sind wieder Rennen bei Rütt?“

Zu allem Überfluss brennt 1933 ein Feuer die Sportarena nieder, der ehemalige Radprofi ist ruiniert. Ein paar Jahre standen die verkohlten Reste noch an der Lilienthalstraße. Dann wurden sie abgerissen. Heute befindet sich das Regenwasserrückhaltebecken für den Flughafen Tempelhof an seiner Stelle.

Rütt ist verbittert, macht neue Fehler: Er tritt 1937 in die NSDAP ein. Die Nazis befördern ihn dafür zum „Reichssportlehrer“.

Grüßonkel nach dem Krieg

Auch nach 1945 kriegt er nicht mehr richtig die Kurve: Rütt berät ein paar Fahrer, wird zu Sechstagerennen als Grüßonkel eingeladen, ab 1950 versucht er sich als Sportreporter. Wie aus der Zeit gefallen, bleibt er der typische Sportler jener Jahre, der mit seinem Rad alles, ohne es nichts ist. 1964 stirbt Walter Rütt, Berlins Radweltstar, in Steglitz.

Rütts Grabstelle verkam, er geriet in Vergessenheit.

Ein paar Fans und Aktive erreichten 2001 beim Berliner Senat, dass dieser 2001 das Grab für den Zeitraum von zunächst 20 Jahren zur Ehrengrabstätte erklärte. Das war wie das kleine Comeback eines großen Namens, wie er dem 104. Sechstagerennen guttäte.

24 Jan 2015

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Rolf Lautenschläger

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