taz.de -- Graphic Novel „Der Araber von morgen“: Das kindliche Staunen

Riad Sattoufs neuer Comic „Der Araber von morgen“ legt humorvoll die Widersprüche im panarabischen Selbstbild offen.
Bild: In Gaddafis Libyen: „Gott ist der Größte, Gott ist der Größte“

Riad Sattouf, geboren 1978, stammt aus einer binationalen Verbindung. Seine Mutter ist Französin, eine Bretonin, sein Vater Syrer, aus einem Dorf bei Homs. Seit Jahren arbeitet der Comicautor an der Erzählung seiner Geschichte.

Riads Eltern lernten sich in den 1970er Jahren beim Studium an der Pariser Sorbonne kennen. Und da Riads Vater, Abdel-Razak Sattouf, nicht nur ein Stipendiat, sondern ein glühender Anhänger des Panarabismus war, zogen die Sattoufs 1980 von Frankreich nach Libyen, ins Reich des Diktators Muammar al-Gaddafi. Und später wieder zurück nach Frankreich und von dort weiter ins Syrien des Hafis al-Assad.

Riad war also zwei Jahre alt, als es zum ersten Mal von Frankreich in den Nahen Osten ging. Aus der Perspektive des Kindes hat er die Stationen seines früheren vagabundierenden Lebens mit den Eltern nun dargestellt. „Der Araber von morgen“ besteht aus knappen, sehr humorvollen und tiefschichtigen Episoden, die aus der Kinderperspektive eine eindrucksvolle Gesamtschau ergeben. Der jetzige erste Band behandelt die Jahre 1978 bis 1984, gewährt tiefe, sehr tiefe Einblicke in Alltagsleben und -denken der damaligen Zeit.

Humor ist eine Waffe. „Acht Jahre für ein cum laude! Rassisten!“ Eine Szene zeigt Riads Vater, der mit Frankreich fertig ist, weil er in der Historikerprüfung an der Sorbonne mit „gut“ und nicht mit „sehr gut“ abschneidet.

Folgt man der Comic-Fiction seines Sohnes, dürfte er damit aber sehr gut bedient gewesen sein. Denn Vater Sattouf, aus einfachen Verhältnissen stammend, war ein typischer Vertreter des unaufgeklärten arabisch-sunnitischen Mainstreams dieser Jahre. Gemäß der panarabischen Großmachtdoktrin des Ägypters Gamal Abdel Nasser sollten die Juden, der Westen und die Schiiten den sunnitischen Arabern unterlegen sein. Ein vereinigtes sunnitisches Reich würde die Nachbarn in die Schranken weisen.

Nasser scheiterte, die Araber griffen Israel an und unterlagen. Sie konnten sich auch nicht auf den einen großen Führer einigen. In der Folge suchten der Iraker Saddam Hussein, der Libyer Muammar al-Gaddafi und der Syrer Hafis al-Assad das Erbe Nassers anzutreten. Es reichte jedoch nur für lokale Despotien.

Hingezogen zu freier Sexualität

Es ist ein ständiges Schwanken des „Arabers von morgen“, das Riad Sattouf an seinem Vater beobachtet und zeichnerisch in feinen Episoden beschreibt. Minderwertigkeitsgefühle wechseln mit solchen der Omnipotenz. Der mimosenhafte Vater fühlt sich in Frankreich verkannt, träumt von der Überlegenheit (national)sozialistischer arabischer Entwicklungsdikaturen.

Sprüchen über die Vernegerung Frankreichs folgt der sehnsüchtige Blick auf den Hintern der schwarzen Frau. „Der Araber von morgen“, wie Riad Sattouf ihn zeigt, fühlt sich zu westlicher Lebensart und freierer Sexualität hingezogen und bleibt doch befangen im Denken von Scholle und Tradition.

Sinnbildlich jene Szene, in der Riads Vater sich beim Besuch seiner syrischen Mutter auf die Knie wirft und der unbeweglichen Alten die Füße küsst. Der kleine Riad staunt ob der verschiedenen Welten, seine französische Großmutter kennt er als selbstständiges Individuum, obgleich der französische Großvater ein versoffener Hallodri ist.

Riad Sattouf treibt so seine Scherze, vor allem mit den innergesellschaftlichen Widersprüchen einer traditionell ausgelegten sunnitisch-arabischen Kultur; über Gemeinschaften, die sich gerne als Opfer fremder Mächte wahrnehmen, während sie doch vor allem die Freiheitsrechte des Individuums negieren, mit einem allgegenwärtigem Gott als Ausrede.

Islamismus und Panarabismus

Dank der Zeichnungen Riad Sattoufs reisen wir durch den südlichen Mittelmeerraum, durch Gebiete, die Anfang der 1980er Jahre fernab der Globalisierung liegen, ohne Internet und jene Mobilität, die 30 Jahre später zu den großen demokratischen Erhebungen der Arabellion führen, in deren Widerhall totalitäre Kräfte die Region heute zum Teil in ein Schlachthaus verwandelt haben.

Ist die Saat des Panarabismus in Gruppierungen wie dem IS aufgegangen? Wie stark beim „Araber von morgen“ die Mythen des sunnitischen Islamismus mit denen des panarabischen Nationalismus verflochten waren, darauf deuten bei Sattouf viele Szenen hin. Die sich sozialistisch nennenden arabischen „Entwicklungsdiktaturen“ beriefen sich zur Legitimierung ihrer Herrschaft immer auch auf den Koran, wenngleich sie eigenständig agierende religiöse Bewegungen gewaltsam unterdrücken ließen.

Fast hätten die Sattoufs das libysche Abenteuer nicht überlebt. Riads französische Mutter, abenteuerlustig, neugierig, und ihr langhaariges Kind entpuppen sich zunehmend als unsteuerbares Risiko. Riads Mutter versucht sich in Libyen als Nachrichtensprecherin für den französchischsprachigen Sender. Beim Verlesen des Irrsinns aus Gaddafis Propagandaküche kriegt sie auf Sendung einen Lachanfall. Höchste Zeit, das weiß auch „der Araber von morgen“, die Koffer zu packen.

Fluchtpunkt der Sattoufs ist immer wieder die französische Großmutter und deren Haus in der Bretagne. Doch Riads Vater schmiedet weiter große Pläne, die Familie zieht schon bald nach Syrien, ins heimatliche Dorf bei Homs. Dort ist die arabisch-französische Familie nicht nur willkommen. Scheiße liegt auf der Straße, und den Anteil am Familienbesitz des Sorbonne-Stipendiaten hat der Clan längst unter sich aufgeteilt. Was kommt der auch aus Europa zurück.

Blau, gelb und rosa

Riad, der kindliche Held des Comics, saugt die neuen Eindrücke in sich auf, bestaunt Unterschiede zwischen Frankreich, Libyen oder Syrien. Zum Beispiel die Farben der Landschaft. Riad Sattouf ändert die Farbgebung seines Comics je nach Handlungsort. Die Zeichnungen sind in der Fläche teilweise blau (Frankreich), gelb (Libyen) oder rosa (Syrien) unterlegt (und dunkelrot, wenn Assad im Bild auftaucht, dunkelgrün bei Gaddafi). In seiner klaren Konturierung erinnert sein Zeichenstil an die Ligne claire, allerdings setzt Riad Sattouf, anders als der berühmte Hergé, auf Schwarz-Weiß-Zeichnungen, seine Figuren wirken auch etwas knuffiger und runder.

Einzelne Episoden widmet Sattouf dem kindlichen Staunen über die unterschiedlichen Gerüche (die französischen Oma riecht nach Parfüm, die syrische nach Schweiß), die Tischsitten (Frauen und Kinder essen im Dorf bei Homs separat, kriegen, was die Männer übrig lassen) oder die staatliche TV-Propaganda. Das ist erfrischend frech, amüsant, spannend und in Europa meist unbekannt.

Irritiert verfolgt man im „Araber von morgen“, mit welcher Ignoranz die Dorfbevölkerung auf die französische Frau und ihr langhaariges Kind reagieren. Für die meisten Dorfkinder scheint Riad ein Alien, ein „Jude“, den es zu verprügeln gilt. „Jehuda bedeutete Jude, das ist das erste Wort im syrischen Arabisch, das ich gelernt habe.“ Nach einem Vorfall mit einem Hund – Riad Sattouf zeichnet, wie die Dorfkinder zuerst Fußball mit dem Tier spielen, bevor einer es mit der Heugabel aufspießt – setzt Riads Mutter die Rückkehr der Familie nach Frankreich durch.

Riad ist jetzt sechs, aber sein Vater, der Araber von morgen, schmiedet weiter große Pläne. Die wird Riad Sattouf, der in Frankreich sehr populär ist und bis 2014 auch neun Jahre lang Comicstrips für Charlie Hebdo zeichnete, in einem Folgeband darlegen.

16 Apr 2015

AUTOREN

Andreas Fanizadeh

TAGS

Schwerpunkt Syrien
Algerien
Libyen
Charlie Hebdo
Comic
Graphic Novel
Schwerpunkt Syrien
Graphic Novel
Schwerpunkt Syrien
Graphic Novel
Comic
Salman Rushdie
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Avant-Verlag
Mauerfall

ARTIKEL ZUM THEMA

Graphic Novel „Der Araber von morgen“: Multikultur für Anfänger

Riad Sattouf erzählt eine Kindheit zwischen Europa und dem Nahen Osten – mit subversivem Witz gegen Antisemitismus und das Patriarchat

Comic-Autorin über ihren Urgroßvater: „Das perfekte Gegenbeispiel“

Westliche Instrumente und orientalische Musik: passt nicht? Zeina Abirached erzählt in „Piano Oriental“ vom Erfindergeist ihres Urgroßvaters Abdallah Kamanja.

Comic „Der Araber von morgen“: Sterben muss er nicht

Riad Sattoufs autobiografischer Comic „Der Araber von morgen“ erzählt von einer Kindheit in Syrien, ist Zeitreise und Offenbarung zugleich.

Graphic Novel „Die Heimatlosen“: Vergessene Helden

Paco Roca hat fünf Jahre an seinem Comic gearbeitet. Es handelt von spanischen Widerstandskämpfern im Zweiten Weltkrieg.

Graphic Novel über Kindheit in Vietnam: „Mein Buch darf da nicht erscheinen“

Wovor sich das Regime in Vietnam auch heute noch fürchtet: eine Graphic Novel über den Krieg aus der Perspektive der Verlierer.

Faire Produkte aus dem Kriegsgebiet: Turnbeutel aus Syrien

Die deutsche Unternehmerin Lanna Idriss lässt in Syrien Accessoires herstellen. Damit schafft sie Jobs für Frauen, die so ihre Familie ernähren können.

Streit über Satire in den USA: Keine Sympathie für „Charlie Hebdo“

Das amerikanische PEN-Zentrum schmeißt einen Gala-Abend. Schriftsteller boykottieren ihn, denn „Charlie Hebdo“ sollte einen Preis bekommen.

Verdacht auf Chlorgas im Syrienkrieg: „Bleichhaltige Gerüche“ in Sarmin

Dem UN-Sicherheitsrat liegt ein Video vor, das einen Chlorgas-Angriff in Syrien zeigen soll. Unter den Opfern sind vor allem Frauen und Kinder.

Opferzahlen zum Syrien-Konflikt: 220.000 Tote

Über 220.000 Menschenleben hat der Krieg in Syrien bisher gefordert. Laut der Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind 80.000 Zivilisten und Kinder darunter.

Graphic Novel über Flüchtlinge: Eine Frau stirbt im Mittelmeer

Reinhard Kleist rekonstruiert im „Traum von Olympia“ die letzten drei Jahre der Läuferin Samia Yusuf Omar, die nach Europa wollte und dabei umkam.

Graphic Novel aus Finnland: Eine recht archaische Jungsjugend

Es ist eine liebevolle Coming-of-Age-Story mit schrägem Titel. Tikkanens „Blitzkrieg der Liebe“ erzählt vom Aufwachsen in der finnischen Provinz.

Graphic Novel zur Wende: Illustrierte Schnoddrigkeit

„Treibsand“ erzählt von der Berliner Wendezeit aus Sicht eines US-Korrespondenten. Die Graphic Novel vereint Groteske mit kindlicher Naivität.