taz.de -- Kommentar Flüchtlingspolitik: Stellt endlich Visa aus!
Die Betroffenheit über die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer ist groß. Trotzdem beharrt die große Politik auf der „Festung Europa“. Das ist brutal und zynisch.
Wie viele Menschen müssen sterben, damit die EU einen Sondergipfel einberuft? Seit Montag kennen wir die brutale und zynische Antwort: 1.000 müssen es schon sein. Denn noch wenige Tage zuvor, als „nur“ 700 Flüchtlinge elendig im Mittelmeer ersoffen waren, drückten sich Brüssel und Berlin vor der Verantwortung.
Kommissionschef Jean-Claude Juncker wollte ebenso wenig mit dem Problem zu tun haben wie Ratspräsident Donald Tusk oder Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nun haben sie ihre Meinung geändert, endlich. Am Donnerstag wird es also einen EU-Sondergipfel zur „Flüchtlingsproblematik“ geben, ein Zehn-Punkte-Plan liegt bereits vor.
Doch ein Grund zur Entwarnung ist das nicht. Ein echtes, ernst gemeintes Umdenken zeichnet sich nämlich keineswegs ab. Das würde nämlich voraussetzen, die „Festung Europa“ in Frage zu stellen und legale, sichere Wege der Einwanderung zu erschließen. Genau das ist jedoch bisher nicht geplant. Die EU will zwar mehr für die Rettung Schiffbrüchiger tun, doch gleichzeitig die umstrittene Grenzschutzagentur Frontex aufrüsten. Sie soll künftig sogar Schleuser-Boote vernichten.
Die Schleuser werden zu Feinden erklärt, ein ganzes Arsenal soll ihnen das schmutzige Handwerk legen. Kriminalisierung und Militarisierung werden das Problem jedoch nicht lösen, denn die Ursachen liegen woanders: in Elend und Krieg jenseits des Mittelmeers. Darauf hat die EU aber keine Antwort. Eine weitere bittere Einsicht kommt hinzu: In diesem Fall ist die EU nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.
Mit ihren restriktiven Asyl- und Einwanderungsregeln hat sie die Menschen erst auf die Boote getrieben, denn auf legalem Wege einreisen können sie nicht. Mit ihren Gipfelprozeduren und Abstimmungsverfahren hat sie es erst möglich gemacht, dass Deutschland und andere Nordländer die betroffenen Staaten am Mittelmeer, etwa Italien und Malta, ausbremsen und lähmen konnten. Die wollten nämlich schon vor zwei Jahren handeln, bei der ersten großen Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa.
Doch Merkel sagte Nein. Das wird die Kanzlerin diesmal zwar nicht mehr wagen. Der öffentliche Druck ist zu groß, dieser Sondergipfel muss Ergebnisse liefern. Doch humaner wird Europa deshalb nicht werden. Bestenfalls ein bisschen weniger brutal und zynisch.
21 Apr 2015
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Eine Fregatte der Bundeswehr hat ein Boot mit Flüchtlingen im Mittelmeer evakuiert. Die Fregatten „Berlin“ und „Hessen“ helfen Italien bei der Seenotrettung.
Während Europa Flüchtlinge im Mittelmeer verrecken lässt, setzt sich in den USA langsam Pragmatismus durch. Das hat auch mit der Machtfrage zu tun.
EU-Parlamentarier wollen eine Neuauflage von „Mare Nostrum“ erzwingen. Die Bundeswehr zeigt sich bereit, Schiffe ins Mittelmeer zu schicken.
Wer Flüchtlinge aufnimmt, muss wegen „Gefahrenerhöhung“ um Versicherungsschutz bangen. Ein fatales Signal, findet Justizminister Maas.
Sicher ist: Frontex soll mehr Geld bekommen. Ansonsten bleibt der Zehn-Punkte-Plan der EU zur Flüchtlingsrettung schwammig.
Es ist offen, ob die EU mit ihrem Zehn-Punkte-Plan richtige Antworten auf die Schiffskatastrophen im Mittelmeer gibt, sagt der UNHCR-Vertreter Vincent Cochetel.
Reeder fordern staatliche Hilfe zur Flüchtlingsrettung, weil ihre Crews überfordert sind. Der Hamburger Svante Domizlaff hat dazu eine klare Meinung.
Die EU beruft ein Krisentreffen zur Flüchtlingspolitik ein. Die Seenothilfe soll verbessert werden. Aber auch die Abschottung könnte ausgeweitet werden.
Es ist schwer, ein Mindestmaß an Versorgung für die Flüchtlinge in dem zerfallenden Staat zu leisten, sagt die UNHCR-Mitarbeiterin Sarah Kahn.
Außen- und Innenminister diskutieren in Brüssel. Die Linke will Frontex abschaffen, die Grünen fordern sichere Fluchtwege nach Europa.
Es gibt eine völkerrechtliche Verpflichtung zum Handeln im Falle von „großem Verlust an Menschenleben“. Worauf warten wir also?
Ein Überlebender der Katastrophe vom Sonntag berichtet, an Bord seien mehr als 900 Menschen gewesen. Das UNHCR zweifelt, ob das möglich ist.