taz.de -- Babyboom bei den Grünen im Bundestag: „Eine großartige Herausforderung“

Angesichts von 11 Kindern in der Fraktion denkt Katrin Göring-Eckardt über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach. Ihre Ideen: Zeitkonten und Sabatical.
Bild: „Abgeordnete können nicht sagen: Ich bin mal sechs Monate weg“, sagt Göring-Eckardt. Ihr Job im Fraktionsvorstand sei es deshalb, für Entlastung zu sorgen

taz: Frau Göring-Eckardt, den Grünen im Bundestag steht ein Babyboom bevor. Für Sie als Fraktionschefin kann das heiter werden. Haben Sie schon die Krabbelecke im Sitzungssaal vorbereitet?

Katrin Göring-Eckardt: Ich freue mich total. Jetzt sind acht Babys unterwegs – und wenn dieses Interview erscheint, ist eins davon vielleicht schon da. Drei weitere Kinder sind in dieser Legislaturperiode schon zur Welt gekommen.

Glückwunsch.

Wir freuen uns, gerade junge Frauen in der Fraktion zu fördern. Wenn nun mehrere fast gleichzeitig Nachwuchs bekommen, wird das natürlich eine Herausforderung für uns. So viele Babys auf einmal gab es noch nie. Aber es ist großartig.

11 von 63 Grünen-Abgeordneten – das ist beachtlich: Wie kommen Sie den jungen Eltern entgegen, ohne die Arbeitsfähigkeit zu gefährden?

Wir hatten gerade ein Treffen mit den werdenden Eltern. Die haben alle genaue Pläne, das wird gut klappen. Wir richten einen Eltern-Kind-Raum mit Spielecke in unserer Fraktion ein. Die Abgeordneten sollen ihr Kind auch mal mitbringen können, wenn es nicht anders geht. Dafür sind die meisten Büros im Bundestag leider zu eng. Ich habe außerdem allen signalisiert: Ihr müsst nicht hundertprozentig einsatzbereit sein, wenn ihr nach acht Wochen Mutterschutz wiederkommt. Eine Sitzungswoche kann von morgens sieben bis nachts um elf Uhr gehen. Das klappt nicht mit einem Säugling.

Wie behelfen Sie sich dann? Zu den werdenden Eltern zählen ja Parlamentarier mit wichtigen Posten – etwa die Sprecherin für Flüchtlingspolitik oder die TTIP-Expertin.

Am Anfang reicht es, wenn die Abgeordneten wichtige Abstimmungen und Ausschüsse selbst wahrnehmen. Für den Rest organisieren wir Vertretungen.

Die Grünen wünschen sich aktive, neue Väter. Machen jetzt auch die männlichen Abgeordneten daheim Ernst?

Wir organisieren die Vertretungen natürlich auch für die werdenden Väter. Die signalisieren mir: Wir wollen nicht mehr rund um die Uhr erreichbar sein müssen und wollen auch mal Termine auslassen, wenn wir zu Hause gebraucht werden. Aber das sind alles engagierte Abgeordnete, die sich natürlich mächtig ins Zeug legen werden, um den Anforderungen gerecht zu werden.

Der baden-württembergische Landtag hat die Elternzeit für Abgeordnete eingeführt. Wünschen Sie sich das auch für den Bundestag?

Ein Mandat ist kein normaler Arbeitsvertrag, deswegen geht das nicht. Abgeordnete können nicht sagen: Ich bin mal sechs Monate weg. Unser Job im Fraktionsvorstand ist es deshalb, für Entlastung zu sorgen.

Ihr Spielraum scheint gering.

Ganz ehrlich: Viele Leute stehen im normalen Berufsleben doch vor ähnlichen Schwierigkeiten – etwa Selbständige oder Verkäuferinnen, die in einer geteilten Schicht arbeiten und schnell wieder einsteigen müssen, weil sie das Geld brauchen. Und das ist ein zentraler Punkt, wenn wir über Zeitpolitik reden: Wir müssen Freiräume für alle schaffen. Ich bin nur bereit, diese Form von Zeitpolitik zu unterstützen, wenn sie auch für Geringverdiener gilt.

Ihre Partei hat das Thema für den Länderrat am Wochenende auf die Agenda gesetzt. Wie sieht das grüne Gegenangebot zur 32-Stunden-Woche für berufstätige Eltern aus, mit der Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig wirbt?

Die Situation von Familien ist so unterschiedlich, da reicht eine schlichte 32-Stunden-Woche nicht als Antwort. Frau Schwesig hat bisher auch nur diesen Vorschlag gemacht. Passiert ist nichts. Meine Fraktion arbeitet deshalb an eigenen Konzepten.

Sie haben bisher nicht einmal ein Alternativangebot?

Doch, es sind mehrere Varianten im Gespräch. Ich kann mir zum Beispiel ein Zeitkonto für Berufstätige vorstellen. Damit ermöglichen wir etwa, in den ersten Jahren bewusst mehr zu arbeiten und sich so freie Zeit anzusparen. Von diesem Zeitbonus können sie sich später dann eine Auszeit ermöglichen – um sich beispielsweise um die 13-jährige Tochter kümmern zu können, wenn es Probleme in der Schule gibt, oder sie gönnen sich meinetwegen eine lange Reise.

Der Leitantrag für den Parteitag fordert: Alle Menschen sollten eine Auszeit nehmen und mal auftanken können – also auch die Lidl-Kassiererin oder der Müllmann. Das klingt nach einer Wohlfühl-Utopie.

Wir müssen über das Normale hinausdenken, wenn wir die Situation von Familien verbessern wollen. In unserer schön eingerichteten Mittelschicht beklagen wir gerne, dass wir abends noch arbeiten müssen. An diejenigen, die währenddessen die Wohnungen der Mittelschichtverdiener putzen, denkt keiner. Dabei treffen Stress und Überlastung diese Leute deutlich härter als jemanden, der eine Arbeit hat, die ihm total viel Spaß macht und finanzielle Spielräume ermöglicht.

Anders als ein Manager kann sich der Müllmann kein halbes Jahr unbezahlten Urlaub leisten. Wo soll denn das Geld für dessen Sabbatical herkommen?

Wir müssen darüber nachdenken, wie man das finanziert und wie es machbar ist. Arbeitszeitkonten wären eine Variante. Der Staat würde mit auf das Zeitkonto der Berufstätigen einzahlen und so einen Ausgleich für den Verdienstausfall gerade für untere Einkommen ermöglichen.

Was kostet das?

Das kann ich heute noch nicht sagen. Es hängt vom Modell ab.

Früher kämpften grüne Feministinnen dafür, dass Mütter voll berufstätig sein können. Löst jetzt ein neues Teilzeitideal dieses Ziel ab?

So sehe ich das nicht. Das Entscheidende bei den Feministinnen war doch: Frauen brauchen eine eigenständige Existenzsicherung. An dem Punkt kommen wir nicht vorbei.

Auch heute nicht?

Nein, denn bei allen schönen Ideen muss klar sein: Sie dürfen nicht dazu führen, dass schließlich weiter vor allem Frauen in Teilzeit gehen, keine eigene Absicherung haben und am Ende in der Altersarmut landen.

Der Leitantrag zur Zeitpolitik verlangt deshalb, die Ursachen für die Schieflage anzugehen. Das hieße: das Ehegattensplitting muss weg?

Richtig. Aber heute kommt das Ehegattensplitting zu fast zwei Dritteln Leuten mit Kindern zugute. Deswegen kann man es nicht einfach ersatzlos abschaffen. Denn es ging ja gerade darum, Kinder zu fördern statt nur die Ehe.

Aber das Ehegattensplitting bevorteilt das klassische Alleinverdienermodell.

Deshalb brauchen wir Alternativen. Und müssen Rücksicht nehmen auf Leute, die sich in ihrer Lebensplanung darauf verlassen haben. Niemand kann ja rückwirkend seine Biografie ändern.

Das Splitting bleibt dennoch ungerecht. Es sponsert die Reichen und benachteiligt die Kassiererin, der Sie helfen wollen.

Das stimmt. Es kommt auch bei Leuten mit zwei kleinen Einkommen nicht an. Darauf wollen wir eine Antwort finden.

Der Staat kann aktiv andere Rollenmodelle fördern. Aber wie stark sollte er in die Familien reinregieren?

Darüber diskutieren wir noch. Meine Überzeugung ist: Wir machen Angebote, keine Vorschriften. Die Politik muss zunächst vor allem dafür sorgen, dass Männer und Frauen für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Wer wie oft das Kind von der Kita abholt oder den Müll runterträgt, ist Sache der Familie.

Der Ansatz grüner Zeitpolitik ist nicht mehr die Umverteilung innerhalb der Familien, sondern ein geringeres Arbeitsvolumen insgesamt?

Wenn es solche Umverteilung gibt, freut mich das. Aber ich gehöre nicht zu denen, die erzieherisch in die Familien reingehen wollen und sagen: Ihr müsst das gerechter aufteilen! Auch Frauen, die Ende dreißig das erste Kind bekommen, entscheiden sich mitunter selbstbewusst dafür, erst mal den größten Teil der Sorgearbeit zu übernehmen. Die sagen: Ich habe im Job fast alles erreicht, jetzt will ich die Zeit mit meinem Kind genießen. Soll ich da entgegnen: Das ist aber schlecht für dich, weil du nicht genug Rentenpunkte kriegst?

Sie haben selbst Mitte zwanzig Kinder bekommen, sind inzwischen Großmutter. Befremdet Sie das Lamento der jungen alten Eltern um sie herum, die alles so irre anstrengend finden?

Ich finde es super, dass Eltern jetzt sagen: So können wir nicht weitermachen. Damals war es nicht weniger anstrengend, aber man durfte sich nicht beklagen. Viele Regelungen sind auch heute völlig lebensfremd. Eltern dürfen nur zehn Tage im Jahr mit dem kranken Kind daheim bleiben. Es darf bloß nicht öfter Fieber bekommen. Warum bieten wir keine flexible Betreuung für kranke Kinder an, wenn es nicht anders geht?

Wenn alles so schlimm ist: Wieso organisieren die Eltern noch nicht mal eine Großdemo?

Denen fehlt dafür einfach die Zeit und die Energie. Genau deshalb finde ich es so wichtig, dass sich unsere Gesellschaft dieser wichtigen Debatte nicht länger entzieht.

23 Apr 2015

AUTOREN

Astrid Geisler
Göring-Eckardt

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