taz.de -- Verfassungsschutzbericht 2024: Geheimdienst zählt 50.000 Rechtsextreme – ein Viertel mehr

Vor allem im Rechtsextremismus ist das Personenpotential angestiegen. Auch Bedrohungen durch Islamismus, Spionage und Sabotage sind weiter hoch.
Bild: Forderte im Einklang mit der Neuen Rechten eine „Konservative Revolution“, stellt nun den VS-Bericht vor: Innenminister Dobrindt

Berlin taz | Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) beginnt das Vorwort des Verfassungsschutzberichtes 2024 mit den Sätzen: „Jede Demokratie braucht jemanden, der sie schützt. Der Verfassungsschutz ist essenzieller Teil genau dieses Schutzes unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung.“ Die verfassungsmäßige Ordnung sei fast täglichen Angriffen ausgesetzt, beklagt Dobrindt – sei es in Form von Sabotage, Desinformation oder Spionage, insbesondere im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Oder seien es Anschläge, Gewalttaten und Bedrohungen „durch Islamisten, Rechts- und Linksextremisten“, wie Dobrindt in einem Atemzug aufzählt.

Am Dienstag um 11 Uhr stellt der Innenminister den neuen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2024 vor und konstatiert erneut eine Zunahme extremistischer Aktivitäten und Personenpotenziale. Auch die Gewalttaten haben in den meisten Bereichen zugenommen – Ausnahme: Linksextremismus.

Einen Schwerpunkt im Bericht setzt Dobrindt auf Bedrohungen durch hybride Angriffe durch Russland: Russland würde „Low-Level-Agenten“ anwerben, um zu spionieren und zu sabotieren. Ebenso forderten chinesische Aktivitäten „besondere Wachsamkeit“.

Laut Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV, bzw. VS) ist vor allem der Rechtsextremismus gewachsen. Dobrindt hatte ihn vor kurzem bei der Vorstellung der auf ein Rekordhoch gestiegenen Zahlen zur politischen Gewalt als [1][größte Gefahr für die Demokratie bezeichnet]. Nun nennt auch der Inlandsgeheimdienst Zahlen zum Zuwachs: Das rechtsextremistische Personenpotenzial sei um ein knappes Viertel gestiegen – von 40.600 auf 50.250 Personen. Darunter sind laut VS auch 15.300 Gewaltbereite – wiederum eine Zunahme von 14.500. Auch die Straftaten seien um fast 50 Prozent auf 37.835 angestiegen. Bei den Gewalttaten sei der Anstieg um 11,6 Prozent auf 1.281 ebenfalls hoch.

20.000 Extremisten in der AfD

In der Ende 2024 nach eigenen Angaben 50.000 Mitglieder der damals noch als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften AfD gibt es laut Verfassungsschutz 20.000 Extremisten. Die in „Die Heimat“ umbenannte NPD wiederum sei auf 2.500 Mitglieder geschrumpft. Erstmals werden die „Freien Sachsen“ aufgeführt, die auf 1.200 Personen kämen. Den „III. Weg“ beziffert der VS mit 950 Personen. In parteiunabhängigen Strukturen gebe es wiederum 8.500 Personen und das „weitgehend unstrukturierte rechtsextreme Personenpotenzial“ beziffert der VS mit 18.000 Personen.

Innerhalb der AfD seien liberalkonservative Positionen öffentlich kaum noch wahrzunehmen, die Positionen des „solidarisch-patriotischen Lagers“ (Eigenbezeichnung, sprich: völkisch-nationalistischen) würden zumeist unwidersprochen vertreten. Das habe sich auch bei den Landtagswahlen gezeigt, wo führende Parteimitglieder regelmäßig „verfassungsschutzrelevante Positionen“ vertreten hätten.

Wie zuletzt im [2][geleakten Verfassungsschutzgutachten] zur Partei attestiert der Inlandsgeheimdienst auch in seinem offiziellen Bericht der AfD ein „völkisch-abstammungsmäßig geprägtes Volksverständnis“ im Widerspruch zum Grundgesetz, einhergehend mit Verschwörungserzählungen vom „großen Austausch“. Zudem fänden sich weiter zahlreiche „fremden- und muslimfeindliche Positionen“ – ebenso wie „verfestigte Verbindungen zu Akteuren und Organisationen des extremistischen Teils der Neuen Rechten“ sowie eine „internationale Vernetzung und eine Diffusion der Grenzen zwischen Partei und Vorfeldorganisationen.“

Die Zahl der rechtsextremen Kundgebungen sei weitgehend gleich geblieben, „auf einem ähnlichen hohen Niveau wie im Vorjahr“. Zentrale Agitationsfelder seien neben dem Nahostkonflikt und islamistisch motivierten Gewalttaten die Themen „Asyl und Migration“, „Queerfeindlichkeit“ sowie die Landtagswahlkämpfe 2024. Vor allem Personen aus der queeren Community seien zunehmend Ziel von Agitation und Angriffen geworden – seit dem Juni 2024 gebe es eine „vermehrte realweltliche und gewaltorientierte Fokussierung“ – insbesondere im Zusammenhang mit CSD-Veranstaltungen – „eine besorgniserregende Entwicklung“ mit Schwerpunkten in Sachsen und Sachsen-Anhalt, wie der VS-Bericht konstatiert. Hier seien auch vermehrt junge Neonazis in Erscheinung getreten wie „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“.

Selbstauflösungen als Mittel gegen Verbote

Aber auch rechter Terror habe eine breite Basis durch verstärkt im Internet stattfindende Radikalisierung. Exemplarisch nennt der VS die vom „Tag X“ (also dem staatlichen Zusammenbruch) träumenden „Sächsischen Separatisten“, die „ethnische Säuberungen“ und die Eroberung von Gebieten geplant haben sollen. Mitglieder seien dem VS auch aus dem parteigebundenen Rechtsextremismus bekannt (dabei waren mehrere AfD-Funktionäre).

Der VS wies zudem noch auf das Compact-Verbot hin, weil die Organisation zur Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts sowie zur Vernetzung relevant gewesen sei. Über das Verbot wird [3][ab Dienstag vor Gericht verhandelt]. Andere Vereine wie das Institut für Staatspolitik seien wiederum Verboten mit Selbstauflösungen zuvorgekommen: Dafür hätten sie zwei neue Gesellschaften gegründet, „Menschenpark UG“ und „Metapolitik Verlags UG“ – bei beiden Organisationen sei sowohl personell als auch mit Blick auf die Inhalte festzustellen, dass es sich um die Fortsetzung des Instituts für Staatspolitik handele.

Knapp 30.000 Islamisten

Eine Gefahr für die Bundesrepublik gehe auch weiter vom Islamismus aus, wie etwa der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die Anfang 2024 „Töte sie, wo immer ihr sie findet“ als Parole ausgegeben habe. Anschläge seien von jungen, allein handelnden Tätern geplant und durchgeführt worden – wie in Mannheim und Solingen im Mai und August 2024.

Die Gefährdungslage sei weiter hoch und das Personenpotenzial um 1.000 Personen auf 29.280 angestiegen: Die größten Anteile seien bei „Salafistischen Bestrebungen“ mit 11.000 Personen festzustellen, die „Hizb Allah“ (Hisbollah) wiederum habe 1.250 Anhänger. Ebenso seien die Muslimbruderschaft mit 1.450 Personen ein Schwerpunkt. Ein großer Anteil haben auch legalistische Islamisten von der „Millî Görüş“-Bewegung und „zugeordneten Vereinigungen“, deren Anteil der VS auf 10.000 beziffert. Zum IS kann der Verfassungsschutz keine gesicherten Zahlen nennen.

Auch im „Phänomenbereich Linksextremismus“ sei das Personenpotenzial um 1.000 auf 38.000 Personen angewachsen – unverändert ist laut VS die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten: 11.200. Linksextreme Straftaten seien auf 5.850 Delikte gestiegen. Dass die Gewalt insgesamt gleichzeitig um 26,8 Prozent auf 532 Delikte gesunken ist, verschweigt Dobrindt zwar in seinem Vorwort, es stimmt aber trotzdem. Genauer: Auch die Gewalt gegen Polizeibeamt*innen durch Linksextreme hat laut VS um 51,4 Prozent abgenommen – lediglich die linke Gewalt gegen Rechtsextremisten habe zugenommen – um 37,3 Prozent.

Nahostkonflikt als Mobilisierungstreiber

Der eskalierende Nahostkonflikt hat wiederum in fast allen Feldern für einen Mobilisierungseffekt gesorgt. Es werde zu Hass gegen Jüdinnen und Juden oder den Staat Israel aufgerufen und Israels Existenzrecht verneint. Im Rechtsextremismus wurde der Konflikt ebenfalls dazu genutzt, migrationsfeindliche und antisemitische Positionen zu verbreiten. Bei der Agitation sowohl online als auch realweltlich beim beinahe wöchentlichen Demonstrationsgeschehen mit Schwerpunkt in Berlin träten Islamisten, palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten sowie deutsche und türkische Linksextremisten als Mobilisierungstreiber in Erscheinung, so der Verfassungsschutz – als „Brückennarrativ“ wirkte Antisemitismus und Israelfeindlichkeit.

Angesichts des schon zuletzt vom Bundeskriminalamt konstatierten Höchststands der extrem rechten Straftaten besonders erschreckend: Vor allem [4][Opferberatungsstellen für Betroffene extrem rechter Gewalt] betonten in den vergangenen Jahren, dass viele rechte Taten als solche nicht erkannt würden – darunter auch mutmaßliche rassistisch motivierte Brandanschläge wie den von Solingen im letzten Jahr, bei dem eine türkisch-bulgarische Familie mit zwei kleinen Kindern ums Leben kam und bei dem Ermittler offenbar [5][einen Vermerk auf ein rassistisches Tatmotiv löschten] und Hinweise auf die extrem rechte Gesinnung des Täters ignorierten. Die Dunkelziffer dürfte hier also noch deutlich höher liegen.

10 Jun 2025

LINKS

[1] /Politisch-motivierte-Kriminalitaet/!6085979
[2] /Was-steht-im-AfD-Gutachten/!6087894
[3] /Compact-Prozessbeginn-am-Dienstag/!6093342
[4] /Jahresbilanz-2024-der-Beratungsstellen/!6089238
[5] /Rassistische-Brandstiftung-in-Solingen/!6087790

AUTOREN

Gareth Joswig

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