taz.de -- Proteste in Los Angeles: Was bedeuten die vielen mexikanischen Flaggen in den USA?
Auf den Demos gegen die Abschiebungen in Kalifornien werden mexikanische Flaggen geschwenkt. Mit Nationalismus hat das aber wenig zu tun.
Zweifellos dürften viele Mexikaner*innen schmunzeln, wenn sie die Fotos der migrantischen Mobilisierungen gegen den Abschiebeterror der US-Regierung betrachten. Unzählige Flaggen ihres Landes wehen derzeit auf den Demonstrationen von Los Angeles, Chicago oder Dallas. Das Bild eines im Mexican Style maskierten Mannes, der vor einer Rauchschwade auf dem Dach eines Polizeifahrzeugs steht und eine Mexiko-Fahne schwenkt, sorgt für viel Aufregung.
Kommt jetzt die späte Rache? Im 19. Jahrhundert hat sich der nördliche Nachbar schließlich große Teile Mexikos angeeignet. Erst Texas durch Annexion, dann mit einem Krieg die heutigen Bundesstaaten Arizona, New Mexico, Kalifornien, Nevada, Utah sowie Teile von Kansas, Colorado und Wyoming. US-Truppen zwangen die mexikanische Regierung, 55 Prozent ihres Staatsgebiets abzugeben. 1,36 Millionen Quadratkilometer. Das entspricht fast vier Mal der Fläche von Deutschland.
Mehr als ein Schmunzeln dürfte der Gedanke der Revanche für den Landraub bei den meisten Mexikaner*innen trotzdem kaum hervorrufen. Die gewaltsame Aneignung der Territorien ist nur eine von vielen Demütigungen des Nachbars, mit denen die Menschen südlich des Rio Bravo immer wieder konfrontiert sind. Doch die seither existierende Grenze, die wie die meisten Grenzen hinterhältig, gemein und aus strategischen Gründen gezogen wurde, markiert letztlich nur die Linie, die verschiedene Verwertungsbedingungen voneinander trennt.
Mit kulturellen Identitäten hat sie wenig zu tun. Grenzstädte wie Nuevo Laredo stehen ihren US-Gegenübern in vielem näher als etwa den indigen geprägten Regionen des verarmten Südens. Die Grenze bildet schlicht die Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens: billige, illegalisierte Arbeitskräfte auf den Feldern Kaliforniens und in den Weltmarktfabriken von Tijuana oder [1][Ciudad Juárez,] Märkte, Zölle oder auch keine.
Interkulturelles Verhältnis
Für Millionen mexikanische Familien, die Angehörige „im Norden“ haben, wie sie sagen, ist das selbstverständlich. Ebenso wie für die Migrierten selbst. Insbesondere Ältere, die eine Green Card haben, pendeln oft zwischen diesen Welten, für jene „ohne Papiere“ setzt der Rio Bravo natürlich knallharte Limits. Diese binationalen Identitäten spiegeln sich in den Taquerias von Tucson/Arizona genauso wider wie in den schicken SUVs, mit denen der Besuch aus Atlanta durch das Heimatdorf des Großvaters in der mexikanischen Sierra Sur braust. Und sie kommen in den Flaggen zum Ausdruck, die geschwenkt werden.
Da geht es genau um dieses interkulturelle Verhältnis und nicht um verklärten Nationalismus, auch wenn nicht wenige mit Stolz auf ihre Wurzeln verweisen. „Sie sind Kinder und Enkel von Ausgewanderten“, erklärt Chris Zepeda-Millán, der an der Kalifornien-Universität von Los Angeles Chicano-Studien lehrt, in der New York Times.
Dennoch, so betont er, zweifelten [2][die Demonstrant*innen] nicht an ihrer US-Staatsbürgerschaft noch daran, dass sie hierher gehörten. „Sie sehen einfach den rassistischen Hintergrund der Angriffe.“ Nicht zufällig sind auf den Demos neben mexikanischen auch US-Fahnen zu sehen. Nicht selten werden beide miteinander vermischt.
Nationalistische Interpretation
Dass die US-Regierung im Gegensatz zu den migrantischen Communitys auf eine nationalistische Interpretation der rot-weiß-grünen Fahnen setzt, ist wenig verwunderlich. Trump-Berater [3][Stephen Miller] sprach von „ausländischen Bürgern, die ausländische Flaggen wehen lassen, Menschen aufhetzen und die Anwendung des Bundesgesetzes behindern, ausländische illegale Eindringlinge rauszuwerfen“. Also auf jeden Fall ausländisch, und damit negativ.
Nun ja, zumindest bis Agrarunternehmen dem Präsidenten vor ein paar Tagen Druck wegen dem drohenden Verlust billiger Erntearbeiter*innen gemacht haben. Nun spricht Trump von „sehr guten, langzeitigen Arbeitern“ und ordnete an, die Operationen in der Landwirtschaft und den Restaurants sowie Hotels vorerst zu stoppen. Wenn schon keine andere, dann setzt wenigstens die kapitalistische Vernunft Grenzen.
16 Jun 2025
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