taz.de -- Ostdeutsche und die deutsche Einheit: Ostalgie ist gefährlich

In wenigen Tagen wird die deutsche Einheit gefeiert. Manche Ostdeutsche fühlen sich als Bürger:in zweiter Klasse. Kann Gefühl ein Maßstab sein?
Bild: Gehen oder stehen: Wohin will der Osten?

Der Osten gilt mittlerweile als Labor: Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der Osten stoisch anders, er wählt grauenhaft und gefährdet so die Demokratie, wie die Ergebnisse der [1][Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg] zeigen. Was ist nur los mit den Menschen zwischen Ostsee und Thüringer Wald?

Eine Frage, die selbst klügste Politikbeobachter:innen nur mühsam beantworten können. Da wundert es nicht, dass der [2][Ostbeauftragte Carsten Schneider] im aktuellen Bericht zur deutschen Einheit eine tiefgründigere Analyse meidet und Gastautor:innen schreiben lässt.

Was soll er schon sagen, wenn seine Landsleute mit ihrem Zuspruch für die AfD ihrem Unmut Luft machen darüber, dass [3][Ostdeutsche bei den Eliten unterrepräsentiert sind, und dass sich die Einkommensverhältnisse in Ost und West nach wie vor unterscheiden.] Etwa die Hälfte [4][der Ostdeutschen] fühlt sich als Bürger:in zweiter Klasse.

Fragt man sie nach der Demokratie, antworten nicht wenige mit einer Gegenfrage: „Welche Demokratie?“ Rechtfertigt allein das Gefühl des Abgehängtseins eine ostalgische Retrospektive, wie sie unterdessen sogar [5][nach 1989 Geborene] an den Tag legen?

Der Realitätscheck zeigt: Den meisten Menschen im Osten geht es heute materiell besser als in der DDR, selbst die Ärmeren müssen nachts nicht mehr aufs Außenklo, jede und jeder kann seine Meinung herausschreien. Haben die ostdeutschen Realitätsverweiger:innen vergessen, dass sie ihren Nachbarn und Arbeitskolleg:innen einst nicht selten misstrauten, weil überall die [6][Stasi-Spitzel] saßen? Dass sie abends in der Kaufhalle keine Milch mehr bekamen und auf ihren fucking Trabant 10 Jahre warten mussten? Dass sie Russisch hassten und nach vielen Jahren Schulunterricht nicht einmal до свидания übersetzen können?

Trotzdem hilft es nicht, den Osten abzuwerten, gar abzuschreiben. Das gefährdet die Demokratie mehr, als sich ständig mit ihm hart auseinanderzusetzen, meinetwegen auch als Labor.

25 Sep 2024

LINKS

[1] /Brandenburg-Wahl/!6037781
[2] /Demos-gegen-rechts/!5989822
[3] /Wahlen-in-Ostdeutschland/!6026467
[4] /Ostdeutschland-und-die-EM-2024/!6012961
[5] /Junge-Menschen-und-die-DDR/!6028599
[6] /Stasi-Vorwuerfe-gegen-Ulli-Blobel/!6035351

AUTOREN

Simone Schmollack

TAGS

Osten
Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024
Landtagswahl Brandenburg
Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
DDR
DDR
Regisseur
DDR
Stasi
Tag der Deutschen Einheit
Wahlen in Ostdeutschland 2024
DDR
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
Schwerpunkt AfD

ARTIKEL ZUM THEMA

Depot des DDR-Museums: Ein ungewöhnliches Sammelsurium

360.000 Alltagsgegenstände hat das DDR-Museum gesammelt. Die vollständige Sammlung wird nun erstmals in einem öffentlichen Depot gezeigt.

Goodbye, Wolfgang Becker!: Ohne Nostalgie für Lenin

Der Regisseur Wolfgang Becker wurde mit der Komödie „Good Bye, Lenin“ bekannt. Journalisten hielten ihn gern für einen Ostler.

Fernsehdoku zu DDR und Mauerfall: Geschichte einer Ausgrabung

Unser Autor hat wichtiges Archivmaterial aus der Nacht des Mauerfalls gefunden. Um es zeigen zu können, durchlief er eine Sender-Odyssee.

Mordprozess in Berlin: Ex-Stasi-Mann soll 12 Jahre in Haft

Ein Ex-Stasi-Mitarbeiter soll vor 50 Jahren an einem DDR-Grenzübergang in Berlin einen Mann erschossen haben. Die Anklage fordert nun lange Haft.

Scholz in Schwerin: „Deutsche Einheit unvollendet“

Bei einer zentralen Feier im Mecklenburgischen Staatstheater findet Kanzler Scholz mahnende, aber auch lobende Worte.

Bericht des Ostbeauftragten Schneider: Überraschend einig

Der Bericht des Ostbeauftragten zeigt auch Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West: Etwa die Zustimmungswerte zur Demokratie.

Wahlen in Ostdeutschland: Was ist Ostidentität?

Ostdeutsche teilen gemeinsame Erfahrungen, die ihre Identität geprägt haben. Doch Identitäten bestehen aus vielen Bausteinen und können sich ändern.

Ostdeutschland und die EM 2024: Brauchen wir eine Stadionquote?

Nur ein Stadion bei dieser EM befindet sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Kein Grund traurig zu sein, liebe Ostdeutsche.

Wiedervereinigung und AfD: Demokratie resonant machen

Was tun gegen rechts? Not täte die Erweiterung von Demokratie. In Ostdeutschland wurde ein grundlegender Fehler bereits am 19. April 1990 begangen.