taz.de -- Ein Spaziergang durch Rüsselsheim: Quer durch die Autostadt, zu Fuß

Vor 125 Jahren hat man in Rüsselsheim konsequent aufs Auto gesetzt. Das prägt. Hier ist Opel und seinem Werk gar nicht zu entkommen.
Bild: Ohne Opel geht in Rüsselsheim nichts

Rüsselsheim taz | „Was willst du denn in Rüsselsheim? Du hast ja noch nicht einmal einen Führerschein!“ Touché! Das ist tatsächlich wahr, doch schnell kann ich mit einem forschen „Recherche über Industriekultur!“ kontern, bevor ich mir noch den Kalauer „Jeder Popel fährt ’nen Opel“ anhören muss. Und überhaupt: Ja und? Ich habe keinen Führerschein. Ich habe ein reines Gewissen, ich schone die Umwelt. Und reise natürlich mit dem Zug.

Kaum dem Bahnhof entronnen, ist man schon mittendrin im vermeintlichen Paradies der motorisierten Welt. Ein Hotspot der Autoindustrie: Rüsselsheim, die Wiege Opels mit seiner wechselvollen Geschichte. 1862 legte der Firmengründer Adam Opel mit einer Nähmaschinenproduktion den Grundstein für das heutige Imperium, 1886 stieg man auf die Fahrradproduktion um, 1899 schließlich auf die Automobilproduktion. 1900 war das Werk bereits ein Großbetrieb, 1929 wurde es an die amerikanische General Motors (GM) verkauft.

Adam Opel wacht über sein Werk

Verlässt man das Bahnhofsgebäude, ist er nicht zu übersehen. Als Statue wacht Adam Opel über sein riesiges Alt-Werk hinter ihm. Aber wenigstens ein Partyhütchen hätte man ihm aufsetzen können, denn 2024 wird hier groß gefeiert, unter anderem begann man hier vor 125 Jahren mit der Automobilproduktion.

Die Bedeutung des Werks spiegelt sich jedoch nicht kongruent im Innenstadtkern wider, vor allem, weil der historische Ortskern im Zweiten Weltkrieg weitestgehend zerstört wurde. Man sieht daher nicht, dass Rüsselsheim eigentlich eine uralte Stadt ist, die 830 erstmals urkundlich erwähnt wurde.

Das Alt-Werk wurde vom Bombenhagel verschont. So recht was anzufangen mit ihm weiß man hier aber nicht. Es steht in Teilen leer und ist mit grellen Werbebannern verunstaltet, die vollmundig Vermietungsangebote darbieten. Auch Führungen durch die Geisterhallen des Werkes kann man buchen, das die Stadt wie ein Krake umklammert. Opel ist die Daseinsberechtigung dieser Stadt, von der man nicht sagen kann, dass sie zu den schönsten im Land gehört. Und Rüsselsheim ohne Opel, das ist immer noch undenkbar an diesem Standort, der mit mehr als 30.000 Beschäftigten einmal der größte Arbeitgeber der Region war.

Die Mitarbeiterzahl schrumpft mittlerweile jedoch in dem volatilen Geschäft, in dem es keine Erfolgsgarantie mehr gibt. Im Sommer 2024 kommt wieder ein neues Modell auf den Markt: der Opel Frontera, ein SUV, der den Opel Crossland ablösen soll.

„Frontera“? „Crossland?“ Hä? Böhmische Dörfer für die Fußgängerin, für die der Gang durch die Innenstadt doch ernüchternd ist. Viel Leerstand und Tristesse, die Flugschneise über der Stadt sorgt zuverlässig für Lärm. Highlights sucht man zunächst vergeblich. Verrentete Opelaner bevölkern die Cafés. Ein großes alteingesessenes Schuhgeschäft hat Räumungsverkauf.

Weil die Stadt sich nun mal nicht dauerhaft auf den Automobil-Lorbeeren ausruhen kann, muss sie sich ständig neu erfinden, so lockt unter anderem der alljährliche Rüsselsheimer Kultursommer mit hochkarätigen Veranstaltungen. Vor allem aber (Industrie-)Kulturfans kommen hier auf ihre Kosten, zumal der Ort unbedingt im Kontext der gesamten [1][Route der Industriekultur Rhein-Main] gesehen werden muss.

Als Highlight noch die Opel-Villen

Tief in die Stadtgeschichte eintauchen kann man am besten im Stadt- und Industriemuseum, das sich mitten in der hessischen Landesfestung befindet, deren Wallanlagen, Rondelle und Kasematten unweit des Mains noch erhalten sind. Am Fluss konzentrieren sich dann auch die weiteren Highlights der Stadt, die beiden Opelvillen, die Fritz Opel, dem Sohn Adams, gehörten.

Fast könnte man in Anbetracht der ganzen Historie Rüsselsheims sogar vergessen, dass das Auto hier die Hauptrolle spielt, stünden da nicht an manchen Stellen sorgsam aufgereiht Elektrofahrzeuge namens „Opel Rocks-E“. Wie kleine graue Grashüpfer sehen sie aus, und während die Autorin sich noch fragt, wie ihr 1,93 Meter großer Begleiter in dieses Miniaturfahrzeug passen soll, wird es tatsächlich sogar ein wenig romantisch. Auch das kann Rüsselsheim. Man betritt also den Vernapark, diese grüne Oase unweit der Festungsruinen, benannt nach Wilhelmina von Verna, die das ehemalige Amtshaus mit Garten 1839 erworben hatte und es bis zu ihrem Lebensende 1878 zu ihrem persönlichen Refugium aufbaute. Heute herrscht dort eine fast klösterlich anmutende Idylle, nur für Fußgänger und ganz ohne Autolärm.

Am Ende des Spaziergangs durch Rüsselsheim schließt sich mit dem Mausoleum Adam Opels der Kreis. Es ist Teil eines öffentlichen Parks. Gleich daneben leuchten prächtig bewachsene Blumenbeete um die Wette. Und mittendrin dieser Steinkoloss mit einer güldenen Aufschrift. Es ist nur ein Name, aber alle wissen sofort Bescheid: „Opel“.

8 Jun 2024

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Route_der_Industriekultur_Rhein-Main

AUTOREN

Bettina Müller

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