taz.de -- Weltkriegsgdenken in Russland: Gekaperte Erinnerung in Russland

Bei der militärischen „Siegesparade“ auf dem Roten Platz in Moskau betreibt Kremlchef Wladimir Putin erneut Geschichtsklitterung im großen Stil.
Bild: Siegesparade am Donnerstag auf dem Roten Platz in Moskau: Putin (Mitte) scheint es zu gefallen

Moskau taz | Auf der Tribüne hinter Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf dem Roten Platz in Moskau stehen junge Männer stramm, neben ihm haben sich gebrechliche alte Männer Kapuzen ihrer Jacken über den Kopf gezogen. Am „Siegestagen“ über Nazideutschland zeigt sich der Präsident gern von Veteranen umgeben. Das Bild an diesem Donnerstag unterstreicht [1][die Geschichtsklitterung], die Putin auch in seiner Rede vor knapp 9.000 Soldaten auf dem Platz und Millionen Zuschauer*innen vor den Fernsehern betreibt.

Die Alten, das sind die übriggebliebenen Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, des „Großen Vaterländischen“, wie er in Russland heißt. Die Jungen, das sind die, die Putin einst für „Verdienste“ in Butscha ehrte – der ukrainischen Stadt, die wegen der Massaker der russischen Armee zum Symbol der Gräueltaten Russlands in der Ukraine geworden ist. Für Putin ist seine „militärische Spezialoperation“ eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs. Wie nie zuvor zieht er diese Linie.

Der 9. Mai, dieser „Tag des Sieges“, wie ihn Russ*innen bezeichnen, ist ein identitätsstiftender Tag, in dem sich jede/r findet, egal welcher politischen Überzeugung er oder sie ist. 27 Millionen sowjetische Bürger*innen waren im Zweiten Weltkrieg gefallen, es gibt keine russische Familie, die niemanden zu betrauern hätte. Die Erinnerung aber und die Trauer um die Toten und Versehrten hat der russische Staat gekapert. Das Gedenken ist zu plakativen Losungen verkommen, [2][zu Parolen vom „unbesiegbaren Russland“].

Die Parade auf dem Roten Platz ist ein jährliches Ritual voller neomilitaristischer Rhetorik, bei dem Putin wortreich Rache an denen zu nehmen versucht, die seine Sicht der Dinge nicht teilen. „Revanchismus und Verhöhnung der Geschichte sind Teil der Politik westlicher Eliten“, sagt er an seinem Rednerpult.

Dank dem chinesischen Volk

Er betreibt Geschichtsvergessenheit, indem er behauptet, die ersten drei Jahre im Zweiten Weltkrieg sei die Sowjetunion auf sich allein gestellt gewesen. Die Anti-Hitler-Koalition lässt er beiseite. Dafür dankt er dem „Widerstandsgeist und Mut des chinesischen Volkes“. Der Westen wolle die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg vergessen, behauptet Putin und droht: „Unsere strategischen Kräfte sind immer in Kampfbereitschaft.“

Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, nennt er Helden, sie führten den Kampf der Vorväter fort. „Heute verneigen wir uns im Andenken an alle, deren Leben der Große Vaterländische Krieg genommen hat“, sagt er.

Derweil veröffentlichen russische unabhängige Journalist*innen eine Liste der Männer und Frauen aus der Ukraine, die die Bomben im Zweiten Weltkrieg überlebt haben, den Angriffen der russischen Armee jedoch zum Opfer gefallen sind. An sie denken weder Putin noch die vielen Besucher*innen, die samt Kindern an den Absperrungen ihren „Helden“ zujubeln.

„Ruf einfach ‚Hurra‘“

„Wir müssen es diesen Schurken in der Ukraine zeigen“, sagt einer am Neuen Arbat, der Moskauer Prachtmeile unweit des Kremls. Knapp 60 Militärfahrzeuge fahren an ihnen vorbei. „So wenig diesmal. Ich glaube, die verarschen uns hier alle. Die Iskander-Raketen fahren doch sicher schon die zweite Runde, um uns den Eindruck zu vermitteln, sie hätten mehr zu bieten“, sagt ein junger Mann in einer Tarnfarben-Jacke zu seinem Freund neben einem zentralasiatischen Restaurant.

Sie haben sich in Russland-Fahnen gewickelt, winken den Soldaten in den gepanzerten grünen Fahrzeugen zu. „Nur ein Panzer?“, sagt ein Fünfjähriger, der auf den Schultern seines Vaters hockt. „Sei nicht enttäuscht, ruf einfach ‚Hurra‘“, rät dieser dem Kleinen und nimmt ihn wieder herunter. Durch den Schnee gehen sie zur Metro. Die orangefarbenen Räumfahrzeuge putzen den Asphalt.

9 May 2024

LINKS

[1] /Rede-an-die-Nation/!5995473
[2] /Amtseinfuehrung-in-Russland/!6006177

AUTOREN

Inna Hartwich

TAGS

Russland
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Wladimir Putin
Russland
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wladimir Putin
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine

ARTIKEL ZUM THEMA

Feiertag in Russland: Folklore und Waffen

In Russland wird der Tag der Volkseinheit begangen. In der Hauptstadt Moskau hält sich die Feierlaune der Menschen in Grenzen.

Gedenken an Kriegsende in Torgau: Kretschmers Botschaft an Russlands Botschafter

Vor 80 Jahren trafen sich in Sachsen sowjetische und amerikanische Befreier. Zum Gedenken kam auch Russlands Botschafter. Nicht er wurde ausgebuht.

Kontroverse um Gedenkveranstaltungen: Ein Kranz von Kretschmer, einer von Putin

Das Auswärtige Amt will den russischen Botschafter von Weltkriegsgedenken ausschließen. Ins sächsische Torgau darf Sergei Netschajew trotzdem kommen.

Russen greifen ukrainische Kraftwerke an: Angriffsziel Blackout

Kraftwerke, Umspannstationen, Wasserdämme: Die Russen greifen die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Bunker und erneuerbare Energien sollen helfen.

+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Russischer Angriff im Gebiet Charkiw

Die russische Armee hat laut Kyjiw eine Bodenoffensive in der ostukrainischen Region Charkiw gestartet. Präsident Selenskyj: „Heftiger Kampf“.

Amtseinführung in Russland: Putin „bis Ende des Jahrhunderts“

Bei seiner Amtseinführung schwört Putin das russische Volk auf seinen Kriegskurs ein. Für den Präsidenten hat das Vaterland immer den „ersten Platz“.

Kriegsmüdigkeit in Russland: Zwischen Rausch und Apathie

Ohne Krieg ist Putins fünfte Amtszeit undenkbar. Die russische Gesellschaft ist militarisiert – und gleichgültig zugleich.

Rede an die Nation: Putins übliche Verdrehungen

In seiner Rede an die Nation droht der russische Präsident dem Westen mit einem Atomkrieg. Seinem Land verspricht der Kremlchef eine rosige Zukunft.