taz.de -- Kein Austausch mit Geiseln in Gaza: Israels Regierung ideenlos

Netanjahu lehnt einen Austausch von Geiseln und palästinensischen Gefangenen ab. Das könnte bedeuten, die überlebenden Geiseln im Stich zu lassen.
Bild: Die Installation „Empty Beds“ erinnert in Jersalem an alle durch die Hamas Entführten und Getöteten

[1][Bringt sie zurück nach Hause] – man liest es auf Plakaten in israelischen Straßen und an Laternenpfählen in New York. Die Bilder von Kindern, Männern und Frauen, die derzeit von der radikalislamischen Hamas als Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden, gehen um die Welt. Der Horror, den die Geiseln und ihre Angehörigen derzeit durchmachen, ist nur schwer vorstellbar.

Je mehr Bomben auf Gaza fallen, desto größer wird das Bangen der Familien. Die Militäroffensive Israels, so die Sorge der Familien, könnte die Geiseln gefährden und einen Deal erschweren.

Medienberichten zufolge [2][hat die Hamas einen Gefangenenaustausch vorgeschlagen]: alle palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen – das sind mehrere Tausend Palästinenser*innen – gegen alle israelischen Geiseln. Die Familien drängen darauf, dass Israel diesen Deal annimmt. Doch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant sind davon weit entfernt. Ein Austausch „alle gegen alle“ sei illusorisch, so Gallant am Sonntag. Viele Familienangehörige übersetzen die Äußerungen mit: Der Preis ist zu hoch.

Zugegeben, ein solcher Austausch würde bedeuten, führende Köpfe der Hamas freizulassen und damit diejenigen, die gerade einen Angriff auf Israel unternommen haben. Die israelische Führung wird bei den jetzigen Verhandlungen auch an einen früheren Gefangenendeal denken: [3][Der israelische Soldat Gilad Schalit] wurde 2011 im Austausch gegen 1.027 Palästinenser freigelassen. Einer von ihnen war Yahya Sinwar, der heutige Kopf der Hamas im Gazastreifen, der die Angriffe vom 7. Oktober maßgeblich geplant haben soll.

Doppelt existenziell

Doch dreht man den Satz „Der Preis ist zu hoch“ um, bedeutet dies, jetzt konkret das Leben von mehr als 200 Menschen zu opfern – für eine vermeintliche zukünftige Sicherheit des Landes. Dabei ist alles andere als klar, dass die Sicherheit des Landes durch heftige Bombardierung des Gazastreifens erreicht werden kann. Auch die USA bremsen und fordern von Israel einen Plan für den Tag danach – sollte es Israel gelingen, die Hamas zu zerstören. Es brauche eine Vision dessen, was danach kommt, sagt US-Präsident Joe Biden.

Diese Vision fehlt der israelischen Regierung auch für die Geiseln. Sie übersieht, dass die [4][Frage nach den Geiseln in doppelter Weise existenziell] ist: Es geht um das Leben der Geiseln – aber auch um die Frage, in welchem Land die Israelis in Zukunft leben werden: in einem Land, das die Geiseln gerettet hat, oder in einem, das sie und die Familien im Stich gelassen hat. Sollte es wirklich dazu kommen, dürfte dies auch das Land unrettbar zerreißen.

31 Oct 2023

LINKS

[1] https://stories.bringthemhomenow.net/
[2] https://www.deutschlandfunk.de/angehoerige-der-hamas-geiseln-fordern-gefangenenaustausch-104.html
[3] /Sorge-um-die-israelischen-Geiseln/!5967318
[4] /Krieg-zwischen-Israel-und-Hamas/!5969962

AUTOREN

Judith Poppe

TAGS

Israel
Benjamin Netanjahu
Palästina
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Hamas
GNS
Gaza
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Palästinenser
Israel

ARTIKEL ZUM THEMA

Die Geiseln der Hamas: „Ich will nur meine Familie zurück“

Unter den von der Hamas entführten Geiseln sind auch 19 Deutsche. Ihre Angehörigen hoffen auf die Bundesregierung. Ein Treffen in Berlin.

Angehöriger der Hamas-Geiseln: „Uns läuft die Zeit davon“

Noch immer hat die Hamas rund 230 israelische Geiseln in der Gewalt. Die Angehörigen warten auf ein Lebenszeichen – wie der Historiker Yuval Dancyg.

Bodenoffensive in Gaza: Verhandeln statt vergelten

Trotz gefallener Soldaten steht die Mehrheit der Israelis hinter der Bodenoffensive in Gaza. Widerspruch kommt von Angehörigen der Opfer.

+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Kriegsverbrechen gegen Journalisten

Reporter ohne Grenzen stellt beim Internationalen Gerichtshof Strafanzeige. Laut Hamas gab es einen erneuten Luftangriff auf das Geflüchtetenlager in Dschabalia.

Moshe Zimmermann über den Nahost-Krieg: „Eine Regierung von Fanatikern“

Deutschlands lasche Haltung helfe aktuell nicht weiter, sagt der Historiker Moshe Zimmermann. Er fordert vom Westen auch Kritik am Kabinett Netanjahu.

+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Shani Louk offenbar tot

Die Deutsch-Israelin Shani Louk ist den Angaben ihrer Familie zufolge tot. Sie wurde wie Hunderte andere von der Hamas entführt.

Krieg in Nahost: Israel sieht „neue Phase“

Das von der Hamas angegriffene Land setzt im Gazastreifen vermehrt Bodentruppen ein. Ein Fokus: das Tunnelsystem der Terroristen. Derweil droht Iran.

Angriff auf Israel: Geiseln in Gaza

Die Entführung Dutzender Menschen zwingt Israel zu bitteren Entscheidungen. Die Notstandsregierung tendiert zur Härte, die Bevölkerung fordert Verhandlungen.