taz.de -- Die Wahrheit: Meines Bruders Hitler

Aiwanger-Affäre: Bayerischer Problem-Hubert vermeidet Abschuss mit historischer Methode. Ein wahrer Überblick aus dem Nebel der Geschichte.
Bild: Zerstörtes Abbild des cäsarischen Bruders Julian

Die Welt ist erschüttert! Der bayerische Vize-Ministerpräsident, der Aiwanger Hubert, der Hubsi, ein Antisemit! Das offenbarte die Süddeutsche Zeitung am vergangenen Wochenende, nachdem sie ein Flugblatt aus Schülerzeiten Aiwangers ausgegraben hatte mit übelstem antisemitischen Inhalt.

Doch dann atmete die Menschheit erleichtert auf: Der oberste Freie Wähler hatte seinen dunklen Gedanken diesmal keinen freien Lauf gelassen, er war es gar nicht, sondern der Helmut, der Bruder, der Ältere, der sich sofort von seiner „Jugendsünde“ distanzierte – „in jeglicher Hinsicht“. Doch bei genauerer Hinsicht auf die Flugblatt-Affäre lässt sich eine historische Methode erkennen: Immer ist der Bruder schuld.

Man sollte nicht gleich wie ein „Streiflicht“-Autor der Süddeutschen bei Kain und Abel anfangen … oder doch: Denn das berühmteste Brüderpaar aller Zeiten gibt das Muster vor. Der Kain erschlägt den Abel, redet sich aber damit raus, Abel sei „schuld an dem ganzen Scheiß“ (1. Mose 4), und am Ende kommt der Kain damit durch, sonst wäre ja auch an der biblischen Stelle schon Schluss mit der Menschheit. Dafür sind Brüder schließlich da, ist des Gleichnis Lehre.

Auch der gewiefte Machtmensch Julius Cäsar hatte stets einen Sündenbock parat. Nicht er, sondern sein Bruder Julian habe den Rubikon überschritten, verteidigt sich Julius gegen Kritik im bis heute Schüler quälenden Machwerk „De bello gallico“, das sein älterer Bruder verfasst haben soll. Der bekannte Ausruf „Auch du Brutus?“ lautete tatsächlich „Auch du Bruder?“, wie der römische Geschichtsschreiber Tacitus bestätigt. Julian Cäsar habe Julius den Dolch in den Rücken gestoßen, um die Geschäfte des Herrn C. zu übernehmen.

Brüder als Könige

Napoleon hatte sogar vier Brüder, einer dümmer als der andere, dennoch nützlich, wie der große Bonaparte schnell erkannte, weshalb er als Kaiser sofort die kleinen Bonapartes zu Königen krönte. So ließ sich den Brüdern alle Schuld an Desastern wie dem Russland-Feldzug zuschustern.

Besonders heraus stach der jüngste Jérôme, der als König von Westfalen schlimmster Verweser des Landes war, bis im 20. Jahrhundert die Tönnies-Brüder inthronisiert wurden. Die Fleischbarone, selbst kleine Bonapartes, bekriegten sich schließlich vor Gericht und warfen sich ganz im Sinne ihres großen Vorbilds gegenseitig die Zerrüttung der Familiengeschäfte vor. Ein Bruderzwist und Ausredenkrieg, den der spanische Maler Goya in seinem berühmten Gemälde „Die Tönnies bei der Schlacht um Rheda-Wiedenbrück“ bereits vorausahnte. Wenn Napoleon das heute erleben dürfte, er würde sich zum Sonnenkönig von Schalke erklären und einem seiner Brüder die Schuld am ewigen Abstieg der Knappen geben.

Eine gerade Linie führt von Cäsar über Bonaparte zu Hitler. Angeblich soll der Braunauer aus Angst vor dem Kriegsgericht in Nürnberg alles auf seinen Bruder Alois geschoben haben. Er habe in jeglicher Hinsicht nichts zu tun mit den abscheulichen Verbrechen, die ihm angelastet würden, so Adolf. Vielmehr habe schon zu Schulzeiten in Braunau sein älterer Bruder Alois Flugblätter verfasst, die einen Wettbewerb ankündigten, bei dem … – doch erkennen geschulte Historiker bereits an dieser Stelle, dass es sich um mindestens eine Klitterung geschichtlicher Vorgänge handeln muss.

Bruder im Geiste

Und wahrlich soll Hitlers Gegenspieler Stalin seinen Geheimdienst KGB angewiesen haben, den teuflischen Hitler-Bruder zu erfinden, um eine Ausrede für seine eigenen Verbrechen zu haben, waren doch Stalins Brüder in der Kindheit gestorben. Also brauchte er einen Bruder im Geiste, was Hitler später als Fliegenschiss der deutschen Geschichte erscheinen ließ, jedenfalls für Aiwanger nahestehende politische Verwandte.

Deshalb kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch im Fall Aiwanger davon ausgegangen werden, dass nichts an den Vorwürfen stimmt. Die Affäre kann nur eine Ursache haben: Putin! Der russische Führer hat seinen Geheimdienst FSB angewiesen, das Aiwanger-Flugblatt zu fälschen und über die fünfte Kolonne Süddeutsche Zeitung kurz vor der Landtagswahl in Bayern zu lancieren.

Eine Schmutzkampagne der Lügenpresse, von Putin persönlich kreiert. Nicht nur das Flugblatt, sondern auch den Bruder Helmut ließ er erfinden. Helmut Aiwanger gibt es gar nicht! Er ist genauso unwahr wie die Behauptung, der perfide Putin sei ein Diktator und Menschenschlächter. Für den Ukraine-Schlamassel kann Wladimir Putin überhaupt nichts. Schuld sind vielmehr seine Brüder Albert und Viktor. Die es wirklich gibt. Zum Glück für Wladimir.

Und so löst sich Aiwangers leidige Flugblatt-Affäre im Nebel der Geschichte auf und verflüchtigt sich, wie der Problem-Hubert als Schüler gesagt hätte, durch den Schornstein.

29 Aug 2023

AUTOREN

Michael Ringel

TAGS

Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
Hubert Aiwanger
Antisemitismus
Nazis
Bruderschaft
Arno Schmidt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Sahra Wagenknecht
Jewgeni Prigoschin
Metapher
Wladimir Putin

ARTIKEL ZUM THEMA

Die Wahrheit: Arno Schmidt lebt!

New York statt Bargfeld: Vom Großliteraten zum Großkoch. Ein eigenwilliger Schriftsteller ergreift die Flucht vor seiner Fangemeinde.

Die Wahrheit: Feuerwasser und Schwert

Drei ältere Herren verhandeln in einer Berliner Shisha-Bar den Nahost-Konflikt. Die Altinternationalen der Religion suchen nach einer Lösung.

Die Wahrheit: Lichtgestalt mit Gespräch im Gulag

Und noch eine Flugblatt-Affäre. Die Schmutzkampagne geht weiter. Diesmal trifft es Sahra Wagenknecht. Ein asymmetrisch gespiegelter Skandal.

Die Wahrheit: „Meine Freunde nennen mich Prigo!“

Wagner-Chef Prigoschin stürzt aus dem Himmel ab und landet plötzlich im Himmel. In der Hölle ist gerade kein Platz für ihn.

Die Wahrheit: O, du schiefe Magie der Sprache

Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (13): Wie ich einmal einen schweigenden Hut erklomm und dabei schluckend vom Hügel herab winkte.

Die Wahrheit: Bloody Wladis letzter Ritt

Am Freitag startete Russland eine vermeintlich unbemannte Mondmission. Die Aufzeichnung der letzten Minuten vor dem Start von Luna-25.