taz.de -- Löwenjagd in Brandenburg und Berlin: Katze entlaufen
Der Speckgürtel von Berlin ist in Aufruhr. Eine Löwin wird im Wald gesichtet. Wo kommt das Tier her? Es gibt viele Fragen, die taz hat sich umgehört.
Die Herkunft
[1][Wie kommt die Löwin nach Kleinmachnow]? Da weder Zoos noch Zirkusse die Raubkatze vermissen, spricht viel dafür, dass sie einem Privathalter entwischt ist. Das Halten eines Löwen ist in Deutschland „weder verboten noch reglementiert“, sagt Katharina Lemeter, Kampagnenmanagerin der NGO Pro Wildlife. Als bedrohte Art braucht es lediglich einen Nachweis darüber, dass der Löwe aus einer Nachzucht stammt und nicht aus der Wildnis.
Während einige Bundesländer, darunter auch Berlin, das Halten gefährlicher wildlebender Tiere in Verordnungen geregelt und damit an Bedingungen geknüpft haben, fehlt eine solche Regelung in Brandenburg. Niemand überprüft, ob die Tiere artgerecht gehalten werden – sofern das überhaupt möglich ist –, noch ob die Halter auch zuverlässig sind. Fast könnte man sagen, das hat Tradition. Schon NS-Minister Hermann Göring hielt sich in seinem Anwesen Carinhall in der [2][Schorfheide] junge Löwen als Haustiere.
Während sich Göring die Tiere im Zoo auslieh, ist es heute problemlos möglich, sie sich online zu bestellen.
„In Osteuropa werden Löwen relativ viel gezüchtet“, sagt Expertin Lemeter. Ab 2.000 Euro könne man sich ein Tier liefern lassen. Es liegt also nahe, dass es sich um ein skurriles Hobby eher wohlhabender, um nicht zu sagen protziger Personen handelt. Kleinmachnow liegt da als Ort mit einer hohen Dichte Vermögender und vieler Prominenter nahe. Erik Peter
Die neue Nachbarin
Ein Biologe aus Kleinmachnow berichtet, dass die Chatgruppe mit den Nachbar:innen Donnerstagmorgen Alarm geschlagen habe. „Ich bin vorsichtshalber mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Auf dem Weg sind mir sehr viele Polizeiwagen aufgefallen.“ In der Nacht sei laut Anwohner:innen eine Drohne zu hören gewesen, die nach der Ausreißerin suchte. Löwinnenbrüllen sei aber nicht zu vernehmen gewesen. Auf Anhieb kann sich der Biologe niemanden in der Nachbarschaft vorstellen, der sich die Löwin als Schmusekatze gehalten habe. „Auf Zettel an Bäumen, auf denen die entlaufene Katze gesucht wird, warte ich bisher vergeblich“.
Bisher seien ihm in der Gemeinde nur Ameisenlöwen begegnet. Laut Einschätzung des Biologen seien die bis zu 17 Millimeter großen Insekten aber verhältnismäßig ungefährlich. „Normalerweise sehe ich auf der Wildtierkamera in meinem Garten nur Waschbären, Marder oder Wildschweine.“ Er werde das Material der letzten Nacht aber selbstverständlich gründlich auswerten und würde sich über ein Bild der Löwin in seinem Garten sehr freuen.
Kleinmachnow habe durchaus mit [3][einer hohen Wildschweinpopulation] zu kämpfen, so der Biologe. Sie würden regelmäßig nachts die Gärten verwüsten und die Tulpenzwiebeln klauen. „Aber ich denke nicht, dass die Kleinmachnower biologische Schädlingsbekämpfung betreiben, indem sie eine Löwin freilassen“. Kajo Roscher
Die Wiederkehr
Die schöne Löwin in Kleinmachnow könnte gut und gerne als Pionierin in freier Wildbahn bleiben. Sie könnte quasi das Haus herrichten für die Zeit nach 2050, wo in und um Berlin laut Klimaforschern an einer Hochschule in Zürich das Klima von Canberra herrschen wird, der Hauptstadt Australiens. Dort wird es in den Sommermonaten immer noch circa 6 Grad heißer als hier. Die Löwin könnte es also den Holzbienen gleichtun, die ebenfalls klimawandelbedingt auf dem Vormarsch sind, lange Zeit nur im Südwesten Deutschlands zuhause waren und heute sogar nördlich von Osnabrück, Hannover und Berlin unterwegs sind.
Doch beim Löwen wäre das keine Wanderung, sondern eine Wiederkehr. Viele, die schon mal am Trafalgar Square in London waren und einen guten Reiseführer dabei hatten, könnten es wissen: Bis vor 10.000 Jahre war Europa nicht etwa ein Eisklotz, sondern die Landschaft ähnelte der afrikanischen Savanne. Durch diese streiften nicht nur Mammuts und Wollhaarnashörner, sondern auch Löwen. In Ungarn und in der Ukraine soll der Löwe sogar erst im dritten Jahrtausend vor Christus sein. Die Wissenschaft geht aufgrund entsprechender Textstellen bei antiken Autoren sogar davon aus, dass der Löwe in Griechenland bis zum ersten Jahrhundert nach Christus ansässig war. Wir müssen der Löwin also nur noch nahelegen, dass sie sich bitte sehr an die ohnehin problematische Wildschwein- und Rotwildpopulation halten möge. Susanne Messmer
Die Vorahnung
War ja klar, dass der große deutsche, 2015 verstorbene Kinderbuchautor Max Kruse das alles schon 1952 vorausgesehen hat. Damals erschien der erste Teil seiner Kinderbuchreihe „Der Löwe ist los“. Der junge Max Kruse hatte gerade die Fabrik seiner Mutter, der Puppenkünstlerin Käthe Kruse, in den Westen übergesiedelt. Anstatt sie aber zu übernehmen, ging er lieber nach München.
Dort gründete er mit Michael Ende, Otfried Preußler und James Krüss eine Art Gruppe 47 der Kinderliteratur. Es ging um nichts Geringeres, als das deutsche Kinderbuch zu entnazifizieren. Kruse zumindest setzte dort an, wo er niemals Nazis vermutet hätte. Er schrieb beispielsweise gegen das Soldatische an („Don Blech“), parodierte Karl May („Lord Schmetterhemd“) und schuf aus lauter Sehnsucht nach seinem verunglückten Sohn das unsterbliche Urmel, einen Dino mit Sprachfehler, dessen Ei im ewigen Eis überlebt hat und von einem ebenfalls sprechenden Ferkel ausgebrütet wird.
Aber schon in „Der Löwe ist los“ lassen sich Ideen erkennen, die vor 1945 so nie gedacht worden wären: Eines Tages vergisst der Tierarzt, den Löwenkäfig zu verriegeln, und der Löwe reißt aus. Alle haben Angst, nur ein paar Kinder freunden sich mit der Raubkatze an. Am Ende schickt der friedliebende Kruse den Löwen nicht etwa zurück in den Zoo, sondern er darf sich auf den Weg zurück nach Afrika machen. Nach einigen Verwicklungen und der Weigerung des Löwen, einen armen Sultan zu fressen, darf er frei in einem Land namens Sultanien bleiben. Susanne Messmer
20 Jul 2023
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