taz.de -- Streiks in Frankreich: Die solidarische Form von Hoffnung
Französisches Streiken gilt Deutschen gern als Teil der dortigen „Volksseele“. Dabei sind schlicht die rechtlichen Bedingungen in Frankreich besser.
In den Pariser Straßen soll es stinken. Um die 10.000 Tonnen gefüllter, seit Tagen rumliegender Müllsäcke allein in der Hauptstadt machen den üblichen Sehenswürdigkeiten Konkurrenz. Ohne parlamentarische Abstimmung hat Macron [1][die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64] durchgedrückt. Laut Umfragen lehnen rund zwei Drittel der Franzosen die Rentenreform ab. Sie [2][streiken und protestieren seit Monaten dagegen]. Für den 23. März ist erneut ein landesweiter Generalstreik geplant.
In Frankreich wird signifikant mehr als in Deutschland gestreikt. Die Zahlen dazu sind unterschiedlich. Historiker wie Jean Garrigues sprechen von einer [3][französischen Streikkultur], die ihre Ursprünge im Spirit der Revolution von 1789 habe. Und auch hierzulande quasseln Politikwissenschaftler*innen wie Johannes Maria Becker liberalerweise von der „französischen Volksseele“. Dabei übersehen sie, dass die rechtlichen Bedingungen für Streiks in Deutschland grundsätzlich unterschiedlich sind und in Frankreich besser.
Während dort fast alle, auch die meisten Beamt*innen, unabhängig von einer gewerkschaftlichen Organisierung streiken dürfen, ist Streik in Deutschland nur im Gewerkschaftsverbund erlaubt und es muss um den Tarifvertrag gehen. Das in Deutschland restriktive Streikrecht ist unter anderen auf den Nazi und Juristen Hans Carl Nipperdey zurückzuführen und kommt bis heute Arbeitergeber*innen und elitenfreundlicher Politik zugute.
Die Kriminalisierung verbandsunabhängiger, sogenannter wilder Streiks trifft insbesondere Arbeitende mit prekären Arbeitsbedingungen und Rassismusbetroffene, zum Beispiel, wenn Deutschland duldet, dass [4][Erntearbeitende aus Osteuropa illegal ohne Sozialversicherung] und unter Mindestlohn arbeiten.
Widerstand gegen Unterdrückung
Wie scheißegal deutschen Arbeitgeber*innen, aber auch der Justiz und Politik vor allem ausländische Arbeitende sind, zeigt sich auch am Fall des 26-jährigen Refat Süleyman, einem Leiharbeiter aus Bulgarien mit türkischen Wurzeln. Er ist letztes Jahr auf dem Gelände des Stahlwerks von ThyssenKrupp in Duisburg verschwunden und drei Tage später von Hinterbliebenen tot aufgefunden worden. Bis heute zieht sein Tod keine Konsequenzen nach sich.
Ich schreibe diesen Text kurz vor Newroz, dem Frühlings- und Neujahrsfest, das von Afghanistan bis Kurdistan von über 300 Millionen Menschen weltweit gefeiert wird. Der Frühlingsanfang ist mit Hoffnungen für ein besseres neues Jahr verbunden und ihn zu feiern bedeutet [5][vielerorts auch Widerstand gegen Unterdrückung], wie in der Türkei und in Iran. Dort wird vor allem in den kurdischen Städten seit dem Mord an Jina Amini unermüdlich gestreikt. Denn so unterschiedlich die Umstände Streikender weltweit sind, so eindeutig zeigen sie, wie die Mächtigen vor ihnen zittern. Streiks sind die solidarische Form von Hoffnung und machen diese greifbar. In diesem Sinne: Newroz pîroz be, frohes Neues und Soli mit allen Streikenden!
21 Mar 2023
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