taz.de -- Hartz IV und Bürgergeld: Von Bildungswilligen und Kleinerben
Der Bundestag hat das Bürgergeld beschlossen. Wer in Not gerät, sich aber Kurse selbst aussucht, kurz vor der Rente steht oder etwas erbt, profitiert.
Berlin taz | Der junge Mann lebte von Hartz IV und hatte ein Jobangebot im Sicherheitsbereich am Düsseldorfer Flughafen, das er auch gern annehmen wollte. Nur: Dazu brauchte er einen „Security-Schein“. Kurs- und die Prüfungsgebühr hätten zwischen 600 und 800 Euro gekostet. Von seinem Regelsatz konnte er das nicht bezahlen. Er fragte beim Jobcenter nach, doch der Sachbearbeiter lehnte ab. Einen Anspruch auf den Kurs hatte der Mann nicht.
„Solche Fälle haben wir öfter“, berichtet Harald Thomé, Berater im Selbsthilfeverein Tacheles in Wuppertal, bei dem der Mann Hilfe suchte. „Das Jobcenter bewilligt dann eine gewünschte Weiterbildung einfach nicht. Deswegen ist es so wichtig, dass mit dem Bürgergeld der Vermittlungsvorrang in Arbeit abgeschafft und die Weiterbildung gestärkt wird.“
„Die Bedeutung der Dauerhaftigkeit der Eingliederung in Arbeit auch bei der Auswahl der Leistungen zur Eingliederung“ werde gestärkt, heißt es im [1][Gesetzentwurf zum Bürgergeld], den [2][der Bundestag mit Stimmen der Ampelkoalition am Donnerstag verabschiedete]. Damit verschiebt sich die Verhandlungsgrundlage zwischen den Hilfeempfänger:innen und ihren Vermittler:innen zugunsten der Weiterbildung, und es wird schwieriger, die Betroffenen kurzfristig in Helferjobs zu drängen.
Auch die „Karenzzeiten“ für die Übernahme der vollen Wohnkosten sind für bestimmte Gruppen besonders wichtig. „Wir haben Menschen in der Beratung, vorwiegend Ältere, die vorher wirtschaftlich besser gestellt waren, die dann arbeitslos wurden, durch das Arbeitslosengeld I, vielleicht noch durch das Krankengeld in das SGB II rutschen. Für diese Gruppe ist es relevant, dass in der Karenzzeit die Wohnkosten voll übernommen werden“, sagt Thomé. Das künftige Bürgergeld könnte dann auch als Übergang bis zum Bezug einer Erwerbsminderungs- oder Altersrente dienen.
Home-Office braucht größere Wohnungen
Eine Karenzzeit für höhere Wohnkosten kann auch für Selbstständige wichtig sein. „Selbstständige arbeiten oft im Homeoffice, dafür brauchen sie mehr Fläche, die aber technisch gesehen als Wohnfläche gilt. Von daher ist es eine Entlastung, wenn die Wohnung erst mal geschützt ist“, sagt Andreas Lutz, Vorsitzender des Verbands der Gründer und Selbstständigen in Deutschland (VGSD). Lutz begrüßt, dass im Bürgergeld die Erwerbseinkommen in etwas geringerer Höhe als bisher auf die Sozialleistung angerechnet werden sollen.
„Es bleibt aber das Problem der Bürokratie“, sagt Lutz. Selbstständige „Aufstocker“ müssen beim Jobcenter komplizierte Abrechnungen vorlegen, in denen das zu erwartende Einkommen erst mal im Vorhinein geschätzt und hinterher rückwirkend korrigiert wird und auch die Betriebskosten berücksichtigt werden müssen. Viele [3][Selbstständige in Not scheuten] daher den Antrag, so Lutz.
Laut dem Gesetzentwurf, den die Ampelkoalition jetzt vorgelegt hat, sollen Erbschaften „kein Einkommen“ mehr darstellen, sondern dem „Vermögen“ zugeschlagen werden. [4][Bisher muss] eine Hartz-IV-Empfängerin, die von der Tante 10.000 Euro erbt, dieses Geld als „Einkommen“ erst aufbrauchen, bevor sie weiter die Sozialleistung beziehen darf. Damit waren auch kleinere Erbschaften für Hartz-IV-Empfänger:innen unmöglich. Kommt das Bürgergeld, zählt das Erbe künftig als Vermögen, und dann gelten die Vermögensschonbeträge, die – jenseits der Karenzzeit – 15.000 Euro für einen Alleinstehenden betragen.
10 Nov 2022
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
2004 initiierte er in Magdeburg Proteste gegen die Hartz-Gesetze, danach geriet er schnell in Vergessenheit. Am 25. Mai ist Andreas Ehrholdt verstorben.
Das bisher wenig beachtete Thema Altersdiskriminierung ist eine Chance für Linke: Es verbindet unterschiedliche Arten der Benachteiligung.
Das Bürgergeld ist wie erwartet im Bundesrat gescheitert. Nun soll der Vermittlungsausschuss ran und bis Ende November einen Kompromiss finden.
Die Umwandlung der Hartz-IV-Grundsicherung findet im Bundesrat keine Mehrheit. Der Streit wandert jetzt in den Vermittlungsausschuss.
Ist das Bürgergeld echter Fortschritt? Oder Upgrade des längst Bekannten? Eine kleine Geschichte der Unterschichtsverachtung.
Nach scharfer Debatte passiert die Neuregelung des Arbeitslosengelds das Parlament. Das Gesetz dürfte allerdings im Bundesrat stecken bleiben.
Ein Kompromiss beim Bürgergeld scheint mit den Unionsparteien nicht möglich zu sein. Deren Argumente sind nicht nur falsch, sondern heuchlerisch.
Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen Sozialverbände.