taz.de -- Der Hausbesuch: Die Türmerin

Blanca Knodel lebt in einem Turm, den noch der Stauferkaiser Barbarossa bauen ließ. Drei Kinder zog sie in der Einzimmerwohnung groß.
Bild: Vom Esszimmertisch aus kann Blanca Knodel über Bad Wimpfen blicken

Wenn sie eine Zigarette am Esstisch raucht, kann sie auf die Stadt, die ihr zu Füßen liegt, schauen. Wer zu ihr möchte, muss 134 Treppenstufen hochsteigen.

Draußen: Umringt von schiefen Fachwerkhäusern steht der Blaue [1][Turm] 58 Meter hoch über dem schwäbischen Bad Wimpfen. Das spitze Turmdach wird von vier Ecktürmchen flankiert. Unten im Tal fließt der Neckar. Um 1170 von [2][Kaiser Barbarossa] erbaut, ist der Turm heute das Wahrzeichen der Stadt und einer der Bergfriede der Kaiserpfalz. 1235 traf hier Friedrich II. seinen aufrührerischen Sohn Heinrich VII. Ganz oben im Turm leuchten die Fenster. Dahinter lebt Blanca Knodel, 71. Eine der letzten Türmerinnen Deutschlands. Türmer, so werden Menschen genannt, die in Türmen leben oder arbeiten.

Drinnen: An der Wand hängen Stiche der Stadt. Gegenüber steht ein Klavier, darüber Fotos von Knodels Vorfahren. Die Wohnung ist 53 Quadratmeter groß. Es gibt eine Sofaecke, eine Küchenzeile und einen Verschlag, in dem sich das Bett befindet. Über einem Kabuff, in dem ein Computer steht, führt eine Leiter zu einer Bettstatt hinauf. Das Bad ist klein, besitzt aber einen Whirlpool.

Herkunft: Blanca Knodel entstammt einer der ältesten Familien in Bad Wimpfen. Der erste Eintrag im evangelischen Kirchenbuch 1645 sei von ihren Vorfahren. Ihre Mutter betrieb das Wirtshaus „Kräuterweible“, das es heute noch gibt und das für die halben Hähnchen berühmt ist. „Im ersten Stock wurde ich gezeugt, im zweiten Stock geboren. Möchten Sie ein Glas Sekt?“ Auf der Flasche ist ihre Unterschrift abgedruckt – ihre eigene Edition. Während sie von ihrem Leben erzählt, schenkt sie nach.

Arbeit: Es klingelt. Ein Touristenpärchen ist die Stufen hoch gekommen. Knodel geht zur Tür. „Hallo! Grüß Gott! Hier ist die Mautstelle.“ Der Mann fragt: „Wohnen Sie hier?“ „Ja“, sagt Knodel. Alle fragen das. Alle paar Minuten. Die Touristen bezahlen 3 Euro dafür, dass sie noch 33 Stufen höher auf den Aussichtsgang steigen dürfen. Wenn sie wieder herunterkommen, verabschiedet Knodel die beiden und bittet darum, den Turm weiterzuempfehlen. „Wir sind ein flottes Gespann, der Turm und ich.“

Gäste: Einmal, so erzählt Knodel, kam eine Frau in ihre Wohnung und dachte, es sei eine Gaststätte. Sie setzte sich an die Sitzecke und bestellte eine Weinschorle. Knodel fragte: „Süß oder sauer?“ Als die Besucherin zahlen wollte, sagte Knodel, das könne sie nicht. Schließlich sei das hier ihre Wohnung und kein Wirtshaus. „Ich habe schon den Sheriff von Nottingham hier gehabt, den Bürgermeister von Tombstone, einen General aus Brüssel und die ehemalige Ministerin Annette Schavan“, sagt Knodel. „Ich kann mit allen. Ich bin in einer Wirtschaft aufgewachsen. Das ist eine Lebensschule von klein auf.“ Ihr ältester Besucher war 95 Jahre alt. „Danach rief er alle sechs Wochen an. Er konnte mich nicht mehr vergessen.“

Die Jugend: Blanca Knodel hat schon als Jugendliche in der Wirtschaft ihrer Mutter mitgearbeitet. Nach der Handelsschule ging sie für einen Sommer nach [3][Ibiza] und arbeitete an einer Hotel-Rezeption, um Gäste in Deutsch und Englisch begrüßen zu können. „Das war meine schönste Zeit im Leben.“ Alles sei sehr authentisch gewesen. Die Frauen hätten noch Trachten getragen. Heute gebe es auf Ibiza überall nur noch Boutiquen.

Der Sommer danach: Im Jahr darauf ging sie noch mal nach Ibiza. Doch vier Wochen später erkrankte ihr Vater. Sie kehrte nach Hause an sein Sterbebett zurück. „Ich habe dann in der Küche gearbeitet. Meinen Freund konnte ich nur nachts treffen.“ Doch das schreckte ihn nicht ab. Er entschied sich, die Wirtschaft gemeinsam mit ihr zu betreiben. 1973 wurde Knodel schwanger mit Zwillingen. Doch sie waren Frühgeburten. Ein Kind wog 1.050, das andere 1.200 Gramm. „1974 haben wir geheiratet. Am 6. Juni bin ich Mutter geworden. Am 9. Juni ist mein Bub gestorben, am 10. Juni meine Tochter. Am 14. Juni hatte ich Geburtstag und habe meine Kinder beerdigt.“

Rastlosigkeit: 1978 denkt sich Knodel: „Das kann nicht alles sein.“ Sie verkauft die Wirtschaft, die sie von ihrer Mutter übernommen hat und geht mit ihrem Mann nach Malaga, verbringt Zeit auf Ibiza, in Bad Friedrichshall, sogar in Kanada. Dann wird sie wieder schwanger. 1983 kauft das Paar in Bad Friedrichshall ein Haus. Ihre Tochter Isabell wird geboren. 1985 wird Robin geboren, 1987 Katja. Doch die Ehe läuft nicht mehr gut. „Als ich mit Katja schwanger war, wurde mir klar, dass das mit der Ehe nichts mehr wird.“ Er habe sich nicht für die Familie interessiert und sei wieder nach Kanada gegangen. 1989 folgt die Scheidung. Sie sagt: „Erst war ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau, dann eine Mutter, dann eine alleingelassene Mutter. Ich habe aber irgendwie immer zur rechten Zeit das Richtige gemacht.“ Sie zieht bei ihrer Mutter ein, die noch das Lokal „Zum Adler“ in Bad Wimpfen betreibt. Knodel renoviert sich in dem alten Gebäude eine Sechszimmerwohnung mit 160 Quadratmetern.

Der Turm: „Jeder Wimpfener liebt den Turm“, sagt Knodel. „Die Schwester meiner Großmutter war 23 Jahre auf dem Turm. 1994 fragte der Stadtarchivar Günther Haberhauer, ein Freund der Familie, Knodel, ob sie den damals aktuellen Türmer ab und an vertreten könne. Sie machte es gern. In diesen Jahren, so sagt Knodel, hätten viele Lebenskünstler den Turm bewohnt. „Manche denken, Du sitzt da oben, schaust dem Sonnenuntergang zu und lässt den Herrgott einen lieben Mann sein. Das ist aber nicht so.“ Es kommen viele Menschen vorbei. Es klingelt oft im Minutentakt. Knodel wohnt mietfrei dort und wird an den Eintrittspreisen beteiligt, aber der Eintritt kostet nur 3 Euro. Viereinhalb Stunden muss der Turm täglich geöffnet sein. Knodel lässt aber das „Geöffnet“-Schild bedeutend länger hängen. Sie lebt von Mieteinnahmen von Wohnungen und Häuschen, die sie früher in der Stadt gekauft und renoviert hat.

Umzug: 1996 hört der damalige Türmer auf. Der Archivar fragt Knodel, ob sie ganz in den Turm ziehen möchte. Doch sie hat drei Kinder, acht, neun und elf Jahre alt. Und die Wohnung ist klein. Bislang wohnen sie in sechs Zimmern. Nicht in einem. Doch Knodel gefällt die Turmwohnung. Sie überlegt, wie sie sie umbauen kann. Ob es möglich ist, für sie und ihre Kinder hier einzuziehen. Knodel denkt, dass es geht. Sie schläft auf der Schlafcouch in der Wohnzimmerecke, ihr Sohn in einem von einer Trennwand abgetrennten Bett. Er kann immerhin eine Tür zuziehen und hat einen eigenen Fernseher an der Holzwand hängen. Die beiden Töchter schlafen in dem drei mal zwei Meter großen Bettverschlag über der Büroecke. In der alten Wohnung hat sie jedem ihrer Kinder in jedem Zimmer vor dem Einschlafen vorgesungen. Nun kann sie allen gleichzeitig vorsingen. „Als wir das erste Mal oben geschlafen haben, das war richtig toll, ich hatte Gänsehaut“, erzählt sie. Ihr gefällt die Vertrautheit. Die Gemeinsamkeit. Knodel schaut aus dem Fenster und denkt: „Jetzt gehört der Turm mir.“ Die Kinder sagen: „Oh Mama. Geil!“

Aufgaben: Früher hat der Türmer über die Stadt gewacht und Alarm geschlagen, wenn Feinde angerückt sind oder wenn ein Brand ausgebrochen ist. Feinde rücken heute nicht mehr an, aber vor zehn Jahren sah Knodel einen Brand von ihrem Turm und alarmierte die Feuerwehr. 21 Jahre wohnt sie im Turm, bis er 2017 Risse bekommt und Knodel vorübergehend ausziehen muss. „Drei Kinder, eine Katze, die Wechseljahre, wir haben alles überlebt.“ Die Kinder sind mittlerweile alle erwachsen und ausgezogen. Fünf Jahre dauert die Renovierung; Knodel lebt derweil in der Jugendherberge in Bad Wimpfen – immerhin ein Fachwerkbau und laut Knodel eine der schönsten Jugendherbergen des Landes. „Ich habe den Turm vermisst.“ Am 3. September 2022 kann Blanca Knodel zurück in ihren Turm ziehen. Sie ist glücklich.

9 Jan 2023

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AUTOREN

Jan Söfjer

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