taz.de -- Kinotipp der Woche: Versatzstücke der Welt

Soziale Konflikte, Flucht, Exil: Das Favorites Film Festival zeigt bewegende Geschichten, die international mit Publikumspreisen ausgezeichnet wurden.
Bild: Ein Junge zwischen den Welten: „Petite nature“ von Samuel Theis

Johnny ist zehn und lebt in einer Sozialbausiedlung in Forbach kurz vor der deutschen Grenze. Seine Mutter ist frisch getrennt und arbeitet in einem Kiosk als Verkäuferin. Während sein großer Bruder damit beschäftigt ist, zu pubertieren, kümmert sich Johnny um seine kleine Schwester. Wenn er mit ihr und dem Hund draußen ist, spielen die beiden Erwachsene und unterhalten sich über den Stand ihrer Scheidungen.

Als seine Klasse einen neuen Lehrer bekommt, eröffnet sich für Johnny eine neue Welt. Die Freundlichkeit und die Zugewandtheit des Lehrers stechen aus der abweisenden Umwelt des Jungen heraus und schon bald beginnt Johnny, Gefühle für seinen Lehrer zu entwickeln. Samuel Theis „Petite nature“ (der international unter dem Titel „Softie“ läuft) zeigt einen Jungen zwischen den Welten und bei der Entdeckung seiner selbst. Der Film eröffnet am Mittwoch (21.9.) im City Kino Wedding das Favorites Film Festival.

Auch in seiner elften Ausgabe versammelt das Festival wieder Filme, die auf internationalen Filmfestivals die Publikumspreise gewonnen haben. „Petite nature“ beispielsweise lief letztes Jahr auf dem Filmfestival in Cannes im Rahmen der Semaine de la critique. Präsentiert werden in diesem Jahr acht Langfilme und ein Kurzfilmprogramm. Der Großteil der Filme kommt aus Europa, ergänzt um zwei Filme aus Südamerika.

2013 trainiert die junge ukrainische Turnerin Olga in Kiew für ein Turnier. Eines Abends wird sie nach dem Training von ihrer Mutter, einer Journalistin, abgeholt. Auf dem Heimweg rammt ein Auto die beiden, sie entkommen nur knapp. Olga wechselt in die Schweiz, trainiert in den Bergen und hat die Aussicht, Teil der Schweizer Nationalmannschaft zu werden. Dann brechen Anfang 2014 die Maidan-Proteste aus. Inmitten des Trainings verfolgt Olga die Proteste aus der Ferne am Handy.

„Olga“, das Regiedebüt des Schweizer Regisseurs Elie Grappe zeigt eine junge Frau zwischen zwei Leben, dem mit ihrer Mutter in Kiew und dem Leben für den Sport in den Schweizer Bergen. Mit der Repression gegen die Proteste in Kiew ist das eine unvermittelt in unerreichbarer Ferne und das Training fühlt sich falsch und belanglos an. Grappes Film zeigt Leiden am Exil einer jungen ukrainischen Sportlerin.

Konflikte der Welt

Publikumspreise gehen bevorzugt an narrative Filme mit bewegenden Geschichten. Entsprechend ist die Auswahl des Favorites Film Festival durchzogen von Konflikten der Welt: soziale Konflikte, Flucht und Exil, Klimakrise. Die Filme des Festivals verarbeiten diese Konflikte fast durchgängig in fiktionaler Form.

Wer eine größere Bandbreite filmischer Formen möchte, dem sei das Kurzfilmprogramm ans Herz gelegt. Dort träumt ein Lieferbote in Leonardo Martinellis Musical „Fantasma neon“ davon, ein Motorrad zu besitzen, Elin Laut montiert in „Auto“ digitale Versatzstücke zu einer Abrechnung mit toxischer Männlichkeit und Alessandro Marinelli lässt aus der Coronaquarantäne heraus seinen Blick in „Quarantine Mood“ über die Dächer von Rom schweifen.

Auch in seiner elften Edition bleibt das Favorites Film Festival eine Einladung, sich von Narrativen der Welt auf der Leinwand verzaubern und erschüttern zu lassen.

20 Sep 2022

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Fabian Tietke

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