taz.de -- Ukrainische AKWs als Kriegswaffe: Was Robert Jungk schon wusste
Im Krieg gelten keine Regeln mehr. Zivile Atomkraft kann durch einen Angriff zur katastrophalen Gefahr werden.
Diese Art von Bedrohung ist neu in der Geschichte der Atomkraft: Erstmals ist eine Nuklearanlage im Krieg [1][zu einem unmittelbaren Angriffsziel geworden]. Die [2][Atomsicherheit am ukrainischen Saporischschja] mit seinen sechs Blöcken ist damit nicht mehr gegeben. Im Krieg sind schließlich viele Szenarien für AKWs denkbar.
Eine Katastrophe durch einen Angriff mit schweren Waffen ist genauso möglich wie das schlichtere Szenario, dass einer anrückenden Armee die Technik entgleitet, während die Soldaten versuchen, die Reaktoren unter eigene Kontrolle zu bringen. So bewahrheiten sich in der Ukraine gerade alle Befürchtungen, dass im Kriegsfall auch die tollsten Regeln nicht mehr helfen, die die Weltgemeinschaft angesichts des Zerstörungspotenzials der Atomtechnik einmal beschlossen hat.
Die [3][Charta der Vereinten Nationen], das Völkerrecht und die Satzung der [4][Internationalen Atomenergiebehörde] ächten zwar bewaffnete Angriffe auf zivile Atomanlagen, doch im Krieg sind solche Dokumente so gut wie nichts mehr wert. Damit entlarvt Saporischschja den Slogan „Atoms for Peace“ als hohle Phrase. Mit diesen Worten öffnete US-Präsident Eisenhower 1953 das Tor zur „[5][friedlichen Nutzung der Atomenergie]“.
Sein Konzept war es, den Staaten der Welt beim Aufbau einer zivilen Atomwirtschaft zu helfen, sofern sie sich im Gegenzug bereit erklärten, ihre militärischen Atomprogramme einer Kontrolle durch die UN zu unterwerfen. Nun wird im Krieg auch die zivile Atomkraft zur Waffe. Den sensibleren Blick für die Zusammenhänge hatte einst der Publizist Robert Jungk.
Er schrieb schon 1977 in seinem Buch „Atom-Staat“, es sei „mit der technischen Nutzbarmachung der Atomkraft der Sprung in eine ganz neue Form der Gewalt gewagt“ worden. Auch die erklärte Absicht, die Technik nur zu konstruktiven Zwecken zu nutzen, ändere nichts an ihrem „lebensfeindlichen Charakter“. Diesen belegt nun die drohende Katastrophe von Saporischschja. Schade, dass – auch in der aktuellen Atomdiskussion in Deutschland – [6][Robert Jungk] beinahe vergessen ist.
7 Aug 2022
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Russische Politiker wollen die besetzten Gebiete in der Ukraine über Referenden an Russland angliedern. Sie übertreffen sich zurzeit mit Plänen.
Saporischschja ist das größte Atomkraftwerk in Europa. Umso bedrohlicher sind die gegenwärtigen Kampfhandlungen dort. Nun ist die IAEO in der Pflicht.
Durch den südlichen Strang der Druschba-Pipeline fließt nach Angaben der Betreiberfirma kein russisches Erdöl mehr nach Europa. Die USA kündigen Milliardenhilfe an.
Einer von drei laufenden Reaktoren soll laut ukrainischer Energiebehörde vom Netz genommen worden sein. Es drohe der Austritt von radioaktiven Substanzen.
Das ukrainische Dorf Popiwka nahe der russischen Grenze blieb bisher vom Krieg verschont. Trotzdem beschäftigt die Bewohner nichts anderes.
Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, will Kiew die Nutzung der Atomenergie ausbauen. Doch das ist nicht der einzige Grund.
Ein finnischer Konzern kündigt seinen Vertrag mit Rosatom zum Bau des sechsten AKW im Land. Das Unternehmen verliert fast eine Milliarde Euro.