taz.de -- Abgeordnete über Chancen in der Politik: „Frauen sind unterrepräsentiert“

Bahar Haghanipour (Grüne) ist die erste Vizepräsidentin des Abgeordnetenhaus mit Migrationshintergrund. Sie will ein Paritätsgesetz fürs Parlament.
Bild: Seit Herbst 2021 ist Bahar Haghanipour (Grüne) eine von zwei Vizepräsidentinnen im Abgeordnetenhaus

taz: Frau Haghanipour, am Donnerstag wird das Parlament den rund 75 Milliarden Euro schweren Landeshaushalt bis 2023 beschließen. Sie müssen dabei als neue Vizepräsidentin mit dafür sorgen, dass alles ordentlich läuft. Wird Ihnen ein bisschen mulmig bei dieser Größenordnung?

Bahar Haghanipour: Die Sitzung hat ja einen festen Ablauf, die Tagesordnung ist strukturiert und ich muss dafür sorgen, dass sie auch eingehalten wird. Die größte Herausforderung wird wahrscheinlich sein, auf die Redezeiten zu achten – wir wollen ja an dem Donnerstag dann auch fertig werden.

Es kam sehr überraschend, dass Sie im Herbst, obwohl erstmals ins Parlament gewählt, gleich von Ihrer Fraktion als Vizepräsidentin nominiert wurden. Die bisher einzige Grüne in diesem Amt, Anja Schillhaneck, war vorher schon fünf Jahre im Parlament.

Ja, das war schon etwas Neues.

Woher kam das Selbstbewusstsein, sich das als Neuling zuzutrauen?

Wahrscheinlich aus meiner Erfahrung und aus meiner Qualifikation – ich hatte ja bereits Führungserfahrung.

Aber da saßen Sie nicht vor über 140 teils sehr selbstbewussten, unabhängigen Abgeordneten. Und das Parlament mit seinen teils sehr besonderen Abläufen war ja komplett neu für Sie.

Ich habe in der vorletzten Wahlperiode als Referentin im Bundestag gearbeitet. Das war eine ganz wertvolle Erfahrung für den Einstieg ins Abgeordnetenhaus, selbst wenn ich dort nicht als Mandatsträgerin war. Ich fand das auch sehr wertschätzend von meiner Fraktion, mich zu nominieren. Und es war ja nicht nur die grüne Fraktion, sondern das gesamte Parlament, das mir das zugetraut und mich als Vizepräsidentin gewählt hat.

Wobei die Grünen als zweitstärkste Fraktion ja das Vorschlagsrecht hatten und die anderen normalerweise mitziehen.

Ja, aber hätten die Grünen eine Kandidatin vorgeschlagen, die komplett ungeeignet ist, wäre das vielleicht auch anders ausgegangen. Dass ich mir das zugetraut habe, hat auch viel mit meiner Biografie zu tun. Es gab da oft Situationen, in denen mir das, was vor mir lag, erst sehr groß und ehrfürchtig erschien.

Zum Beispiel?

Schon als ich in der Grundschule eine Gymnasialempfehlung bekommen habe, war das für mich eine große Sache – würde ich das schaffen? Dann vor dem Studium hatte ich wieder Bedenken – klappt das, bin ich fleißig genug? Dann habe ich wieder gemerkt: Es ging und war mit keinen großen Schwierigkeiten verbunden. Und so ähnlich war es auch bei meiner Doktorarbeit.

Parlamentspräsident Dennis Buchner von der SPD ist zwar schon länger im Parlament, aber wie Sie auch neu im Amt. Haben Sie sich da mal getroffen und zusammengesetzt, als Neulinge an der Spitze?

Ich habe Herrn Buchner als souverän genug wahrgenommen, diese Rolle einzunehmen und auszufüllen und das von Tag eins an – und ich hoffe, dass ich ähnlich wahrgenommen werde. Die Rückmeldungen, die ich bekomme, gehen auch in diese Richtung.

Anders als Buchner sind Sie und Ihre Vizekollegin, Cornelia Seibeld von der CDU, auch noch fachpolitische Sprecherinnen Ihrer Fraktionen, beide für Frauenpolitik. Wie geht das, für die Fraktion zum Thema zu reden – und das möglichst kämpferisch– und kurz danach wieder neutral zu präsidieren?

Das ist dann wirklich ein Rollenwechsel im Kopf, und das ist nicht immer einfach. Aber das muss klappen. Sonst könnten wir diese Rollen nicht ausfüllen. Denn auf dem Präsidentenstuhl müssen wir überfraktionell sein.

So neu die Parlamentsspitze auch ist – eine antiquierte Wortwahl ist geblieben: „Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden“, heißt es immer nach der zentralen Debatte am Anfang. So unterhält man sich ja nicht über den Gartenzaun.

Ja, es ist gewöhnungsbedürftig. Mir persönlich würde manchmal auch „Wir haben den Tagesordnungspunkt abgeschlossen“ passen. Aber man muss bedenken, dass es formal korrekte Sprache ist, die den Vorteil hat, dass sie juristisch auch korrekt ist. Oben im Präsidium haben wir ein Redemanuskript, in dem diese Formulierungen vorgeschrieben sind. Deswegen sprechen wir die dann so.

Das Parlament hat in dieser Wahlperiode 147 Mitglieder, in der vergangenen waren es 160. Der frühere Präsident Ralf Wieland hatte sich dafür starkgemacht, es zu verkleinern, auf knapp 100 Leute. Da zog aber auch seine SPD nicht mit. Wie stehen Sie dazu?

Um ganz ehrlich zu sein, bewegt mich die Größe des Bundestages aktuell viel mehr als die des Abgeordnetenhauses.

Über den können wir auch reden, aber vielleicht ein Wort zum Landesparlament?

Das Abgeordnetenhaus hat ja laut Verfassung eine Mindestgröße von 130 Abgeordneten, und wir haben aktuell 147 – so viel mehr ist das nicht. Im Bundestag ist die Differenz einfach viel wuchtiger. Da habe ich das Gefühl, der platzt aus allen Nähten. Darum finde ich es total schade, dass es in der letzten Wahlperiode nicht gelungen ist, da eine effektive Regelung zur Begrenzung zu finden.

Ein aktueller Entwurf dazu beinhaltet, dass direkt gewonnene Wahlkreise nicht mehr automatisch zum Einzug in den Bundestag berechtigen: Diejenigen mit den schwächsten Ergebnissen sollen draußen bleiben. Ist das gerecht? Stellen Sie sich vor, Sie würden in Ihrem Bezirk Neukölln gegen starke Konkurrenz gewinnen, kämen aber nicht rein.

Also, mit der konkreten Ausgestaltung dieser Reform befasst sich ja eine Wahlrechtskommission im Bundestag. Die müssen diese Detailfragen diskutieren und klären. Klar ist, dass diese Wahlrechtsreform einzelnen Mandatsträger*innen wahrscheinlich auch wehtun wird, wenn wir auf 600 Abgeordnete runterkommen wollen. Es muss eine Lösung gefunden werden, die gerechtfertigt und vertretbar ist und demokratischen Prinzipien folgt.

Kommentare zu Ihrer Wahl zur Vizepräsidentin waren meist von dem Zusatz begleitet: erstmals jemand mit Migrationshintergrund in diesem Amt. Wie wichtig ist das tatsächlich?

Man hätte auch mein Alter herausnehmen können. Eine relativ junge Vizepräsidentin bin ich ja auch …

… wobei Frau Schillhaneck auch erst 38 war, als sie gewählt wurde

… und ich 37. Aber jenseits des Alters: Ich glaube, dass es ein gutes Zeichen für Berlin ist, dass ich die erste Vizepräsidentin mit sichtbarem Migrationshintergrund bin. Denn über ein Drittel der Menschen in der Stadt hat einen Migrationshintergrund. Da ist es wichtig, dass diese Menschen sich im Parlament auch repräsentiert fühlen. Und wenn das dann auch noch eine Vorbildfunktion hat, dann freue ich mich natürlich.

Haben andere Frauen Sie deswegen angesprochen?

Ich war einmal als Vizepräsidentin bei einem Jugendverband und habe dort ein Grußwort gehalten. Danach ist eine Studentin mit erkennbarem Migrationshintergrund auf mich zugekommen und hat mich gefragt: Wie wird man eigentlich Politikerin und Vizepräsidentin? Sie hätte sich das für sich bisher nicht vorstellen können – es war einfach gar nicht in ihrem Denkschema. Ich dachte: Wow! Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Allein durch meine Existenz solche Denkanstöße zu geben, das hat mich schon berührt.

Sie waren noch nicht mal Teenager, als Hanna-Renate Laurien von der CDU Anfang bis Mitte der 90er die bisher einzige Präsidentin des Abgeordnetenhauses war. Haben Sie auf ihren Werdegang geguckt, bevor Sie ins Vizeamt gekommen sind? Im 3. Stock steht ja auch eine Büste von ihr.

Als Frauenpolitikerin beschäftige ich mich ja grundsätzlich mit Geschlechterfragen. Nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellschaft. Der geringe Frauenanteil in Führungspositionen ist in allen Branchen in Deutschland ein Problem – auch in der Politik. Es gibt eine Tendenz für Veränderung, aber der Wandel sollte schneller gehen. Frauen sind es über Jahrzehnte nicht gewohnt gewesen und es wurde ihnen schwergemacht, sich ins politische und wirtschaftliche Rampenlicht zu stellen. Obwohl sie dazu sicher die Fähigkeiten hatten. Und das ist eben ein Nachteil. Deshalb diskutieren wir auch über Paritätsgesetze.

Werden Sie dieses Thema im Abgeordnetenhaus vorantreiben? In Brandenburg ist ein Gesetzentwurf dazu ja am Verfassungsgericht gescheitert. Ein großer Einwand ist, dass vorgegebene Parität den Wählerwillen einschränke.

Das ist Auslegungssache. Ich bin davon überzeugt, dass wir Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes, nämlich das Gleichstellungsgebot, nicht einhalten. Im Durchschnitt sitzen nur 28 Prozent Frauen in den deutschen Parlamenten – und das nach über 100 Jahren Frauenwahlrecht. Das bedeutet: Wir haben ein strukturelles Problem. Es darf nicht sein, dass wir in einer Demokratie leben, wo Frauen konsequent unterrepräsentiert sind.

Aber gleichzeitig gilt: Die Wahlen zum Parlament sind frei, geheim, gleich und direkt. Da vorzugeben, welche Verteilung am Ende rauskommt, passt dazu nicht.

Das Landesverfassungsgericht in Brandenburg hat das tatsächlich so gesehen und gesagt, dass das Paritätsgesetz nicht legitim sei. Wir müssen da also weiter dran arbeiten und wir wissen, dass sich Mehrheitsmeinungen bei den Jurist*innen mit der Zeit auch wandeln.

Was macht das Land Berlin?

In der Koalition sind wir uns einig, dass wir eine Parität wollen. Das haben wir auch in den Koalitionsvertrag geschrieben. Aber über den Weg dahin sind wir uns noch nicht einig. Da erhoffe ich mir auch einen Vorstoß vom Bundestag.

23 Jun 2022

AUTOREN

Stefan Alberti

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