taz.de -- Erasmus-Direktor über Jubiläum: „Erasmus inklusiver machen“
Über das Austauschprogramm der EU sind Millionen junge Menschen ins Ausland gegangen. Nun soll die soziale Teilhabe am Programm verbessert werden.
taz: Herr Geifes, in diesem Jahr ist die Zahl der Erasmus-Anträge im Vergleich zu 2019 um 20 Prozent gestiegen. Womit hängt das Ihrer Ansicht nach zusammen? Mit der Hoffnung junger Menschen, endlich wieder unbekümmert ins Ausland gehen zu können? Oder den neuen Erasmus-Fördersätzen?
Stephan Geifes: Wahrscheinlich mit beidem. In der gestiegenen Nachfrage nach Erasmus zeigt sich eine neue Lust auf Mobilität nach Corona. Während der Pandemie galt das Prinzip „Gesundheit zuerst“ und trotzdem ging es im Programm immer weiter. Die gestiegenen Fördersätze spielen aber sicher auch eine Rolle. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Zahl der beantragten Auslandsaufenthalte, die die Hochschulen jedes Jahr an den [1][DAAD] weiterleiten, während der Pandemie nur unwesentlich zurückgegangen waren. Die Nachfrage im Programm war also auch trotz der Corona-Einschränkungen und Unsicherheiten unverändert hoch.
Viele Erasmus-Studierende sind aber nur virtuell ins Ausland gereist – und haben so etwas Wesentliches verpasst: das Gefühl, einen neuen Ort, neue Menschen, eine neue Kultur kennenzulernen. Wie stehen die Aussichten auf ein tatsächliches Auslandsstudium im Herbst?
Der Aufenthalt vor Ort ist natürlich ein wichtiger Bestandteil und war es auch unter Corona. Tatsächlich war die rein virtuelle Mobilität viel kleiner als zunächst vermutet: In 2020 waren es nur 100 und in 2021 knapp 1.000 Geförderte – physisch vor Ort waren im Vergleich dazu 2020 rund 21.000 und 2021 rund 34.000. Aktuell muss jeder Geförderte und jede Geförderte wieder eine Mindestzeit vor Ort verbringen, wie es vor Corona der Fall war. Für ein Auslandssemester im Herbst sieht es bislang sehr gut aus. Gleichzeitig sehen wir, dass bestimmte Studierende aus persönlichen Gründen nicht so lange ins Ausland reisen können. Zum Beispiel weil sie Kinder haben oder ihre Eltern pflegen. Deshalb haben wir die Mindestdauer im Ausland von drei auf zwei Monate herabgesetzt. Das setzt die Hemmschwelle herab.
Die Pandemie hat [2][Erasmus] inklusiver gemacht?
Ja, wir wollen auch Personen erreichen, die sonst nicht ins Ausland gegangen wären. Natürlich ist die Wirkung größer, je länger man ins Ausland geht. Aber auch bei einem kürzeren Aufenthalt werden die Ziele erreicht: Die Person setzt sich mit einer anderen Sprache, einem anderen Hochschulsystem, mit einem anderen interkulturellen Setting auseinander. Es können nun auch Studierende gefördert werden, die „nur“ zwischen 5 und 30 Tagen ins Ausland gehen und den Rest der Zeit virtuell am Programm teilnehmen.
Ein langjähriger Kritikpunkt an Erasmus ist, dass die Fördersätze in den Gastländern oft nicht zum Leben reichen – und damit bestimmte Studierende ausschließen. Auch hier wollen Sie inklusiver werden.
Wir wollen die soziale Teilhabe am Programm ausweiten. Erasmus inklusiver zu machen – das ist eine Priorität der aktuellen Programmgeneration bis 2027. Neben der generellen Erhöhung der Förderbeiträge bei Auslandsstudium und -praktika erhalten Studierende aus Nichtakademikerfamilien und erwerbstätige Studierende unter bestimmten Voraussetzungen künftig einen monatlichen Zuschlag von 250 Euro. Wir wissen, dass beide Gruppen unterdurchschnittlich häufig ins Ausland gehen. Der Bonus betrifft also einen ziemlich großen Teil der Studierenden in Deutschland, ich schätze rund 50 Prozent der Studierendenschaft.
Um es konkret zu machen: Für diese Studierenden wären dann je nach Zielland bis zu 850 Euro Förderung statt bisher 450 Euro drin. Wie viel Prozent der sozial benachteiligten Studierenden wollen Sie denn künftig erreichen?
Wir haben bisher keine genauen Zahlen darüber, wie viele Erstakademiker und erwerbstätige Studierende an Erasmus teilnehmen. Aber von dem Feedback, das wir von den Hochschulen und Bundesländern bekommen, nehmen diese beiden Gruppen das Angebot, mit Erasmus ins Ausland zu gehen, deutlich seltener wahr. Das wollen wir ändern. Übrigens steht der Bonus über 250 Euro auch Studierenden mit Kind oder Personen mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen zur Verfügung. Wenn sich abzeichnet, dass der Bonus nicht ausreicht, können Programmteilnehmende aus diesen letztgenannten Gruppen auch einen Antrag auf Übernahme der Realkosten stellen. Sie können auf diese Weise bis zu 15.000 Euro pro Semester erhalten. Für Studierende mit Kind ist das neu. Auch für Familien wollen wir das Programm attraktiver machen.
Eines der beliebtesten Zielländer für Studierende aus Deutschland war lange Großbritannien. Nach Londons Austritt aus dem Erasmusprogramm drohen Studierenden aus der EU auf der Insel hohe Studiengebühren. Allerdings fördert Erasmus seit vergangenem Jahr auch Austauschprogramme mit Nicht-EU-Ländern – auch mit Großbritannien. Wie ist der aktuelle Stand?
Wir bedauern den Brexit und den Ausstieg aus dem Erasmusprogramm sehr. Er ist nicht gut für die Wissenschaft in Deutschland und in Großbritannien. Im Moment läuft der Austausch aus alten Programmelementen noch bis Mai 2023 weiter, eine Rückkehr Großbritanniens in das Erasmusprogramm ist möglich, aber derzeit leider nicht von Großbritannien gewünscht. Nach der aktuellen Förderrichtlinie können deutsche Hochschulen aber bis zu 20 Prozent ihrer Erasmusplätze für Nicht-Erasmus-Länder vergeben – also auch für Großbritannien. Die britischen Universitäten müssen in diesem Fall aber auf die Studiengebühren verzichten.
Und das machen sie?
Nach den Rückmeldungen, die ich von deutschen Hochschulen habe, besteht auf britischer Seite ein großes Interesse, weiter zu kooperieren. Es ist wichtig, das nach außen zu kommunizieren. Viele Studierende glauben, ein Erasmusaustausch mit Großbritannien sei nicht mehr möglich. Das stimmt aber nicht. Es ist komplizierter geworden, vor allem bei Praktika. Aber es gibt, je nach Hochschule in Deutschland und Großbritannien, weiterhin Plätze. Und für die sind dann auch keine Studiengebühren fällig.
Seit dem ersten Erasmusaustausch vor 35 Jahren sind rund zehn Millionen junge Menschen über Erasmus gefördert worden. Bis 2027 will die EU diese Zahl verdoppeln. Muss Erasmus mithelfen, Europa zusammenzuhalten?
Erasmus ist eine Erfolgsgeschichte, die über die akademische Zusammenarbeit hinausgeht. Diejenigen, die an Erasmus teilgenommen haben, engagieren sich mehr für Europa. Wir sehen das daran, dass ehemalige Erasmusstudierende signifikant häufiger an Europawahlen teilnehmen als Altersgenossen ohne Erasmusteilnahme. Dazu kommt, dass sie sich dank der interkulturellen Erfahrungen auch stärker für die Diversität in der eigenen Gesellschaft engagieren. Es ist ein Zeichen, dass die EU die Programmmittel für die aktuelle Förderrunde verdoppelt hat. Erasmus hat eine stabilisierende Wirkung auf unser Zusammenleben in Europa.
Welchen Beitrag kann Erasmus für Länder leisten, in denen Krieg herrscht wie zuletzt Afghanistan [3][oder jetzt die Ukraine?]
Afghanistan ist kein zentrales Kooperationsland des Erasmusprogramms. Dennoch konnte immerhin einzelnen Personen aus Afghanistan geholfen werden. Für die Ukraine hat die EU sehr schnell reagiert und den Erasmustopf unkompliziert für ukrainische Studierende geöffnet. Das hat es den Hochschulen erlaubt, Gelder, die sie schon für zugebilligte Austauschplätze haben, sofort unbürokratisch zu nutzen. Darüber hinaus sind die Erasmusmittel in 2022 für spezielle Hochschulkooperationen mit der Ukraine in Deutschland von zwei auf drei Millionen Euro erhöht worden.
15 Jun 2022
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