taz.de -- Die Ukraine als Nation: Einander kennenlernen
Durch den russischen Angriffskrieg sehen viele Ukrainer ihr Land in einem anderen Licht. Dabei lernen sie Menschen und Orte ganz neu kennen.
Von Beginn der russischen Invasion an konnte ich meine Augen nicht mehr von der Ukrainekarte abwenden. Immer wieder habe ich darauf nach Städten gesucht, von denen ich viele erst durch die Frontberichte kennenlernte. Und von denen ich vorher noch nie gehört hatte.
Der Krieg hat die Ukrainer dazu gezwungen, sich einander anzunähern und kennenzulernen. Denn früher kannten wir unser großes Land eher schlecht und waren oft in Stereotypen gefangen. Politiktechnologen konnten deshalb häufig über das Thema Sprache und verschiedene historische Helden aus unterschiedlichen Landesteilen spekulieren.
Den oft uneffizienten und ungerechten ukrainischen Staat assoziierten viele in dem industriellen Osten und Süden der Ukraine mit der sinkenden Lebensqualität nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem anschließenden schmerzhaften wirtschaftlichen Transformationsprozess.
Die Menschen, noch geprägt durch die sowjetische Propaganda, misstrauten damals den patriotischen Parolen der Westukrainer.
Ukrainischsprachige Ukrainer fühlten sich manchmal noch unwohl in den großen Städten der Zentral- und Ostukraine, wo sich infolge der gezielten Politik des Russischen Reiches und der Sowjetunion die russische Sprache durchgesetzt hatte.
Solche Unterschiede sind nicht spezifisch für die Ukraine und hätten nicht zu unlösbaren Problemen geführt. Aber unser nördlicher Nachbar und einige skrupellose Politiker fokussierten sich darauf und schürten gegenseitiges Misstrauen und Entfremdung.
Und heute suchen Hunderttausende Menschen aus [1][Charkiw], Sumy und [2][Mykolajiw] schon den dritten Monat vor den russischen Bomben Schutz in der Westukraine, die sie früher bestenfalls durch Kurzurlaube dort kannten.
Und die Menschen aus Lwiw und Ternopil ihrerseits sehen, wie die russischsprachigen Ukrainer als erste die Angriffe der russischen Streitkräfte abbekamen und so die ganze Ukraine schützen.
Das alles ist natürlich nicht wie ein Wundertrank, der alle unsere Probleme mit einem Schlag löst. Wir werden noch lange immer wieder mal in Turbulenzen geraten, während wir unser Land verteidigen, die Wunden verheilen lassen und einen effizienteren und gerechteren Staat aufbauen. Wir werden uns hin und wieder noch über Sprachen streiten und uns wegen unterschiedlicher Meinungen über die Zukunft unseres Landes beschimpfen.
Aber ich möchte sehr gerne glauben, dass wir jetzt neue, und endlich auch gemeinsame Symbole und Helden haben. Und vor allem: das Verständnis dafür, dass wir – Einwohner von Iwano-Frankiwsk, Krywyj Rih und Kramatorsk – jetzt ein für allemal über eine gemeinsame Zukunft „abstimmen“, da wir einander in dieser schwierigen Situation unterstützt haben. Und dass jeder von uns, wo auch immer in der Ukraine er gerade ist, sich dort zu Hause fühlt.
Denn wenn der Krieg zu Ende ist, fahre ich auf jeden Fall zum ersten Mal in meinem Leben nach [3][Mariupol], Tschernihiw und Isjum.
Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey]
Das Tagebuch „Krieg und Frieden“ ist ein Projekt der [5][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September als Dokumentation heraus.
21 May 2022
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