taz.de -- Demo am Brandenburger Tor: Ein Lehrgang im Skandieren
Elf Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Demos kleiner und kämpferischer. Darüber freuen sich die ukrainischen Geflüchteten.
Berlin taz | Eigentlich sollte das Ganze eher eine Stadtführung mit Sightseeingcharakter werden. Aber auf halber Strecke lande ich am Sonntagnachmittag mit der ukrainischen Familie, die seit Anfang März bei meinen Kindern, meinem Mann und mir zu Gast ist, am Brandenburger Tor. Sofort stechen uns die vielen ukrainischen Fahnen in die Augen: Eine Demo, die sich beim Näherkommen mit ein paar hundert Teilnehmer*innen als recht übersichtlich, dafür aber umso lautstärker erweist.
Gar keine Frage, hier laufen wir mit, entscheidet Diana, die mit ihrem Mann Yan und den drei Kindern aus einer Stadt in der Nähe von Kyjiw geflohen ist. Sonst wirken Diana und Yan etwas brav. Sie checken zwar unablässig die News, reagieren aber eher müde als wütend, wenn es zum Beispiel ums Thema Waffenlieferungen geht.
Die kämpferischen jungen Leute, die vom Brandenburger Tor Richtung Potsdamer Platz unterwegs sind, scheinen ihnen trotzdem sehr zu gefallen. Hinter uns singen laut und schräg zwei junge Frauen mit John-Lennon-Brillen und übertrieben riesigen Plastikblumenkränzen in Blau und Gelb die ukrainische Nationalhymne. Neben uns läuft ein Mensch mit gelbem Lidschatten und höchstwahrscheinlich nichtbinärer Geschlechtsidentität.
Es wird geschrien
Überall wird laut getrommelt und geschrien, aber sowohl die Kinder der Gastfamilie (4, 4 und 7) als auch die eigenen (8 und 13) finden's toll – und auch Diana lächelt verschmitzt. Es bricht eine Art Lehrgang im Skandieren los: „Energie. Embargo. Jetzt“, ruft eine junge Frau mit rollendem r ins Megafon. Gar nicht so einfach, das schnell kindgerecht runterzubrechen und gleichzeitig zehnmal hintereinander laut zu rufen. „Keine Geschäfte mit Russland!“ Schon einfacher. [1][“Putin is a killer!“] Kein Problem.
Rund elf Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Demos deutlich kleiner geworden. [2][Am 27. Februar], drei Tage nach Kriegsbeginn, nahmen in Berlin mehr als hunderttausend Menschen an einer Kundgebung gegen den Angriff teil. Am 13. März, also zwei Wochen später, waren es noch mehrere zehntausend. Auch unsere Gastfamilie war dabei – mit eher langem Gesicht, weil sich die Demo verlief, weil es weder Trommeln noch Sprechchöre gab.
Am Sonntag waren nur noch 3.000 Teilnehmer*innen angemeldet. Laut Polizei schlossen sich mit etwa 450 deutlich weniger Menschen an. Aber schließlich kommt es nicht nur auf Masse, sondern auch auf Klasse an. Uns jedenfalls hat es gutgetan.
23 May 2022
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Eine Pro-Putin-Demo in Hannover hatte am Sonntag nur wenig Zulauf. In Erscheinung traten dort vor allem Redner:innen aus der Querdenkerszene.
Zhenya W. floh mit ihrem Sohn aus der Ukraine nach Berlin. Eigentlich möchte sie nicht wirklich ankommen – arbeitet jedoch energisch daran.
Die Ukraine meldet heftige Kämpfe im Donbass. Spaniens Regierungschef betont, dass Putin mit seinem Angriffskrieg scheitern muss.
Eugenia K. und ihr Sohn Yeghor leben seit einem Monat in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Berlin. Wollen sie bleiben? Eine Langzeitbeobachtung.
Hunderttausende gehen gegen Putins Krieg auf die Straße. Das ist auch ein Zeichen der Solidarität für alle, die nach Berlin fliehen.
Die Polen, die 1981 vor dem Kriegsrecht flohen, wurden als Helden gefeiert. Gleiches sollte für die Flüchtenden heute gelten.