taz.de -- 1. Mai in Berlin: Mehr als nur Folklore
Traditionen zu pflegen, heißt sie mit Inhalt zu füllen. Angesichts drängender Krisen könnte dies der Bewegung gut gelingen.
Linke Traditionen sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits vermitteln sie Identität, verdeutlichen gemeinsame Werte und machen die Geschichte vergangener Kämpfe bewusst. Andererseits bürgen sie die Gefahr, bei allzu ofter Wiederholung zu einem inhaltsleeren Politikritual zu verkommen, bei dem niemand mehr so richtig weiß, worum es eigentlich geht.
Bei kaum einen anderen Termin zeigt sich dieser Zwiespalt stärker als bei der [1][revolutionären 1. Mai Demo]. Seit den ersten Ausschreitungen zum internationalen Tag der Arbeiter*innenbewegung 1987 in Kreuzberg, wurde der Tag zu einer Art institutionalisiertem Riot. Gerade in den letzten Jahren wurde der Widerspruch zur alljährlichen Revolutionsrhetorik und einer immer schwächer werdenden linksautonomen Szene deutlich. Diese befindet sich seit der im Zuge der Wiedervereinigung stattgefunden letzten Welle an Hausbesetzungen in einem kontinuierlichen Abwehrkampf.
Umso erfreulicher, dass es seit letztem Jahr [2][eine Neuausrichtung des ersten Mai-Bündnisses] gab, um die festgefahrene Tradition wieder mit Inhalt zu befüllen. Migrantische Gruppen sind führend in die Organisation miteingebunden und die Demo startet nicht in Kreuzberg, sondern auf dem Neuköllner Hertzbergplatz. Nachdem die Demo letztes Jahr vorzeitig von der Polizei [3][unter dem Vorwand des Infektionsschutzes zusammengeknüppelt] worden war, versucht es die Demo dieses Mal bis zum Oranienplatz zu schaffen.
Gründe, an dem Tag auf die Straße zu gehen, gibt es mehr denn je: Imperialistische Angriffskriege gegen die Ukraine und Rojava, Milliarden für die Rüstungsindustrie und Sparzwang für Gesundheit und Klimaschutz, kapitalistische Ausbeutung von Arbeiter*innen und spekulationsgetriebene Mietsteigerungen – um nur [4][einige Punkte aus dem Aufruf] mit dem Titel „Yalla Klassenkampf – No war but class war“ zu nennen (Sonntag, 1. Mai, Hertzbergplatz, 18 Uhr).
Alle Jahre wieder in den Grunewald
Mittlerweile schon selbst Tradition geworden ist die Umverteilungsdemo der hedonistischen Internationalen im Grunewald. 2018 rief das [5][“Quartiersmanagement Grunewald“] das erste Mal dazu auf ins Villenviertel zu ziehen. Mit wachsendem Erfolg – im letzten Jahr radelten trotz Pandemie über 10.000 Aktivist*innen in den Grunewald. Dieses Jahr wird es drei Zubringer-Demos geben, die sich zu einer Kundgebung auf dem Johannaplatz treffen. Zurück geht es dann über die A100 (Sonntag, 1. Mai, 10 Uhr. Treffpunkte: Gesundbrunnen (Wedding), Laskerstraße (Lichtenberg), Zickenplatz (Neukölln); Kundgebung Johannaplatz 12–16 Uhr).
Ein gelunges Beispiel für die Verknüpfung von Tradition und Aktualität ist die feministische [6][Take-Back-the-Night-Demo] am Vorabend des 1. Mais. Die FLINTA*-exklusiven (Frauen, Lesben, Inter, Nonbinary, Trans, Agender-Personen) „Wir holen uns die Nacht zurück“-Demos sind seit den 70er Jahren ein praktisches Mittel, um den für Frauen* durch patriarchale Gewalt oft bedrohlich empfundenen öffentlichen Raum zurückzuerobern. Zusätzlich wird die Walpurgisnacht, in der laut Folklore Hexen ihr Unwesen treiben, als feministischer Kampftag umgedeutet. Im letzten Jahr nahmen rund 3000 Teilnehmer*innen an der äußerst kraftvollen Demo teil (Samstag, 30. April, Mauerpark, Eingang Bernauerstraße, 20 Uhr).
Dann gibt es wiederum Traditionen, die nicht etabliert genug sind. Dazu gehört das offene Gedenken an die vielen Opfer rechter Gewalt, die drohen in Vergessenheit zu geraten, oder schlimmer noch – nie im öffentlichen Bewusstsein waren. So wurde vor [7][25 Jahren der 42-Jährige Phan Văn Toàn am S-Bahnhof Fredersdorf von Nazis] getötet. Ein rassistisches Motiv wollte der Richter damals nicht erkennen. Angesichts des steigenden, besonders anti-asiatischen Rassismus organisiert die Gruppe [8][„Gedenkinitiative Phan Văn Toản“] seit 2020 eine jährliche Gedenveranstaltung. (Samstag, 30. April, S-Bhanhof Fredersdorf, 14 Uhr)
25 Apr 2022
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