taz.de -- Verhandeln statt Waffen liefern: Mit Putin reden

Waffenlieferungen werden den Krieg in der Ukraine nur verlängern. Um ihn zu beenden, sind Verhandlungen nötig – und ein Deal mit Russland.
Bild: Protestaktion gegen die Invasion in die Ukraine vor dem russischen Konsulat in Frankfurt am 30. März

Die Entscheidung des Bundestags, schwere Waffen zu liefern, bedient emotionale Reflexe, kaschiert aber das eigentliche Dilemma, dass die Nato nicht intervenieren kann, obwohl sie das sollte. Eine militärische Intervention kann unausweichlich sein. Die gegen Hitler war es. Ohne Wenn und Aber. Daher sind radikalpazifistische Positionen wenig nachvollziehbar. Ein Eingreifen der militärisch weit überlegenen Nato wäre heute sinnvoll, um das Morden und die Zerstörung in der Ukraine zu stoppen. Warum geschieht das nicht?

Weil sich alle Geheimdienste einig sind, dass Russland atomar antworten würde. Putin würde zunächst taktische [1][Atomwaffen] in der Ukraine einsetzen, um die Kapitulation zu erzwingen und um den Westen zu testen. Sehr wahrscheinlich, dass sich dann der Krieg, auch atomar, ausweiten würde.

Viele sagen, nein, das wird Putin nicht tun. Viele waren sich auch sicher, er würde die Ukraine nicht angreifen, und haben sich getäuscht. Mit Blick auf eine mögliche atomare Eskalation aber hätte ein Irrtum katastrophale Folgen. Wir sind atomar erpressbar. Deshalb – und nur deshalb – greifen wir nicht ein. Diesbezüglich müssen wir uns endlich ehrlich machen und das Dilemma eingestehen.

Da wir nicht wirklich eingreifen können, sollten wir das Herumgeeiere mit alten Waffen auch bleiben lassen. Putin wird wegen ein paar [2][Leopard-Panzern] keinen Schreck bekommen, sich entschuldigen und wieder abziehen. Diese Vorstellung ist absurd. Tatsächlich aber führen diese Waffenlieferungen zu einer Verlängerung des Kriegs, zu noch mehr Leid und Toten. Putins Kriegsführung folgt einem brutalen, aber bekannten Muster. Dort wo „Widerstandsnester“ ausgemacht werden, zieht man die Infanterie zurück, holt die Artillerie und macht Stadtteile oder ganze Dörfer dem Erdboden gleich. So geschehen in Aleppo, Grosny und ganz Tschetschenien, aber auch in Kambodscha, Vietnam und im Irak.

Putin wird diesen Krieg nicht verlieren. Er wird sich die Ostprovinzen holen und die Landzunge zur Krim. Dieses Ziel wird er erreichen. Entweder mit sehr viel Blutvergießen – oder etwas weniger. Unsere Sanktionen treffen die russische Bevölkerung, aber nicht die russische Armee. Diese ist ein Staat im Staat, mit eigener Energieversorgung und nahezu unendlichen Ressourcen.

Daher wäre es richtig, mit ihm zu verhandeln und, ja – einen „dreckigen“ Deal vorzuschlagen: Anerkennung der Krim und der Ostprovinzen auf der Basis von [3][Minsk II]. „Neutraler Schutzstatus“ für die Ukraine, Finnland und Schweden. Neutral im Sinne von: keine Stationierung von Nato-Truppen und Angriffswaffen. Schutzstatus im Sinne von: Sollte er angreifen, tritt sofort der Bündnisfall ein. Putin hätte dann keine Raketen „vor der Nase“, die „neutralen Staaten“ hätten den Schutz der Nato.

Darf man mit einem Verbrecher verhandeln? Gegenfrage: Wie lauten die Alternativen? Was macht man mit einem Geiselgangster, der in einer Bank angefangen hat, Geiseln zu töten, und der damit droht, die ganze Stadt in die Luft zu jagen? Man versucht zu verhandeln und zu deeskalieren. Wenn Joe Biden von Völkermord redet und Senatoren dazu aufrufen, Putin zu töten, ist das schlicht wenig hilfreich. Figuren wie der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu sind noch grauenhafter und Putin wird genauso wenig in Den Haag landen wie George W. Bush, der einen Krieg zu verantworten hat, in dem Phosphor-, Uran- und Streubomben eingesetzt wurden, mit knapp 1 Million toten Zivilisten. Joe Biden war ein strammer Befürworter dieses Krieges.

Ein Verbrechen wird durch andere Verbrechen nicht harmlos. Aber die Attitüde des Westens, „wir sind die Guten“, trägt leider mit dazu bei, dass Putin in vielen Teilen der Welt, nicht nur in Russland, Zustimmung erfährt. Wir müssen mit Putin verhandeln. Mit wem denn sonst? Wir müssen die Föderation in die Knie zwingen, heißt es! Gut, aber was käme dann? Wer würde auf Putin folgen? Mit Blick auf den Irak und Libyen hätte man besser vorher die Frage gestellt, was folgt danach? Wer würde dann den Finger am atomaren Abzug haben?

Nun ist von Zeitenwende die Rede und von neuer Wehrhaftigkeit. Doch seit 1945 gab es ständig Kriege – richtig ist nur, dass uns fast alle ziemlich egal waren. Wer interessiert sich heute für die Totalzerstörung im Jemen mit über 500.000 toten Zivilisten. Und neue Wehrhaftigkeit? Seit 2013 ist der Wehretat der Bundeswehr um 35 Prozent gestiegen. Bereits 2020 gaben wir für den Bund 6 Milliarden Euro mehr aus als die Franzosen für ihre Armee. Seit 10 Jahren rüstet die Nato auf, auch atomar. Das größte Manöver fand im letzten Jahr im Baltikum statt und war laut Nato ein großer Erfolg. Ebenso das Manöver „Steadfast Noon“, in dem die Tornados atomar bestückt wurden.

Rüstungskontrollverträge gibt es nicht mehr, der Vertrag über Mittelstreckenraketen wurde von Trump 2019 gekündigt. 1983 gab es deswegen eine Menschenkette, vor drei Jahren wurde die Kündigung fast ignoriert. Vertragskündigungen, Abbruch von Gesprächsformaten gepaart mit massiver Aufrüstung und Abschreckungsmanövern: Das alles hat schlicht nicht funktioniert, nicht abgeschreckt.

Warum? Putin sei einmarschiert, weil der Westen schwach sei, heißt es. Das ist Unsinn. Er ist einmarschiert, weil er auf unsere Gleichgültigkeit setzte. Sein Wüten in Aleppo war uns egal. Er hat die Stadt Grosny dem Erdboden gleichgemacht und in Tschetschenien neun Jahre einen brutalen Krieg geführt. Das hat uns hier nicht wirklich interessiert. Diese Gleichgültigkeit musste er als Einladung verstehen, genauso weiterzumachen.

Viele machen sich heute lustig über eine Friedensbewegung, die mal eine atomwaffenfreie Welt forderte. Heute erleben wir, was es bedeutet, atomar erpressbar zu sein. Zu Verhandlungen gibt es keine Alternative. So frustrierend und bitter dies auch sein mag.

5 May 2022

LINKS

[1] /Propaganda-im-russischen-Fernsehen/!5852681
[2] /Waffen-fuer-die-Ukraine/!5851092
[3] /Putin-erkennt-die-Volksrepubliken-an/!5837230

AUTOREN

Ulrich Bausch

TAGS

Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wladimir Putin
Schwere Waffen
Minsk II
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Offener Brief
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine

ARTIKEL ZUM THEMA

Ukraine gibt Stahlwerk auf: Soldaten ergeben sich

Nach wochenlangem Ausharren im belagerten ukrainischen Stahlwerk Asowstal in Mariupol sind 264 Soldaten evakuiert worden.

Russland und der Ukraine-Krieg: Bomben-Stimmung für Putin

Das Institut Lewada hat ermittelt, dass über 80 Prozent der Russ*innen Putin und dessen „Spezialoperation“ stützen. Doch so einfach ist es nicht.

Schwere Waffen für die Ukraine: Militarismus ist unfeministisch

Feministische Außenpolitik kümmert sich um die Sicherheit der Menschen, nicht der Staaten. Männlichkeitsnormen und Krieg gehen Hand in Hand.

Aktuelle Lage in der Ukraine: Humanitärer Dialog erhofft

Der UN-Sicherheitsrat berät über den Ukrainekrieg. Russland verspricht eine Feuerpause im Stahlwerk von Mariupol.

EU-Sanktionen gegen Russland: Brüssel gegen Kyrill

Die EU plant auch Sanktionen gegen das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Es geht um sein Vermögen und ein Einreiseverbot.

Noch ein offener Brief zum Ukrainekrieg: Mach Tempo bei der Waffenlieferung

Der Bundeskanzler erhält einen zweiten offenen Brief – diesmal mit der Forderung, sich mit der Waffenlieferung an die Ukraine zu beeilen.

Harald Welzer zum Offenen Emma-Brief: „Die Gewaltlogik unterbrechen“

Er halte die Eskalation des Mitteleinsatzes für die Ukraine für problematisch, sagt Harald Welzer. Gewaltprozesse stoppe man so nicht.

Panzerlieferungen an die Ukraine: Eine richtige Ausnahme

Es ist richtig, dass Deutschland jetzt Panzer an die Ukraine liefert. Trotzdem braucht es in Zukunft strengere Regeln für Rüstungsexporte.