taz.de -- Bahnverkehr in der Ukraine: Menschen aus Eisen
Lange galt die ukrainische Bahn als ineffizientes Unternehmen. Nun retten Evakuierungszüge Millionen Menschen vor dem Tod.
Meine Eltern haben viel Mühe darauf verwandt, dass ich, wie man so sagt, „Kopfarbeiter“ werde, und nicht beruflich in ihre Fußstapfen trete. Mein verstorbener Vater war Eisenbahner und verbrachte fast sein ganzes Leben auf den Schienen. Auch seine Eltern haben ihr ganzes Leben bei der Eisenbahn gearbeitet. Sogar meine Mama, sowjetische Ingenieurin, wurde in den 1990er Jahren Eisenbahnerin, weil die Fabrik, in der sie bis dahin gearbeitet hatte, aufgehört hatte zu existieren.
Ironischerweise hat sie dann ihre eigene Mutter an der Fahrkartenkasse abgelöst, als die in Rente ging. Unsere ganze Stadt, ein kleiner Fleck auf der Landkarte im Gebiet Donezk, ist ein einziger großer Eisenbahnknotenpunkt, der in den postsowjetischen Jahren für „nicht mehr notwendig“ gehalten wurde, seit die neue Zeit und neue marktwirtschaftliche Bedingungen Einzug gehalten haben. Und staatliche Unternehmen für „ineffizient“ erklärt wurden.
[1][Und dann marschierte Russland in der Ukraine ein].
Als in der ganzen Ukraine russische Raketen einschlugen, begannen die Leute, in den Westen des Landes zu flüchten. Die Straßen waren schnell überfüllt und nicht ungefährlich, die privaten Busunternehmen erhöhten sofort die Fahrpreise oder verschwanden einfach.
Ein großer Teil der Menschen, die aus anderen Regionen des Landes kamen oder [2][in die Westukraine flüchteten, um von dort das Land zu verlassen], fuhr mit Evakuierungszügen.
Haben Sie in Filmen über den Zweiten Weltkrieg schon mal Militärzüge gesehen? Ja? Ungefähr genau so sehen die Evakuierungszüge von heute auch aus, nur dass sie statt von einer Dampflok jetzt von einer Diesel- oder Elektrolok gezogen werden. Die Zugfenster sind verdunkelt [3][zum Schutz vor Luftangriffen], und die Züge fahren zwei-dreimal langsamer als gewöhnliche. Aber sie fahren.
Eisenbahner in der Ukraine tragen besondere Schulterklappen und eine Uniform. Früher habe ich Mama ausgelacht, haha, solche Schulterklappen, du verkaufst doch bloß Fahrkarten. Jetzt rettet ein ganzes Heer von Zugbegleitern, Lokführern, Fahrdienstleitern, Rangierern, Streckenarbeitern und anderen Millionen Menschen. Mehr als drei Millionen bislang, um genau zu sein. Meiner Meinung nach ist das mehr als effizient. Oder was meinen die Herren Manager dazu?
Am 12. März fuhr der Evakuierungszug 261/262 Lemberg-Kramatorsk in die Stadt Liman im Gebiet Donezk. Für die Zugbegleiterin Natalja Babitschewa wurde dies die letzte Reise ihres Lebens. In der Umgebung der Station Brusino geriet der Zug unter Beschuss. Nur einige Tage zuvor hatte genau dieser Zug auf genau dieser Strecke meine Schwester und meine Nichte aus der Region herausgeholt.
Bis zum 26. März sind 54 Arbeiter der Ukrainischen Eisenbahn durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen, 64 weitere wurden verwundet. Sie haben nicht besonders gut verdient, ihre Arbeit war nicht prestigeträchtig und die Bedingungen waren hart. Aber sie haben weitergearbeitet, um andere zu retten. Ihre Leistung sollte nicht vergessen werden. An vielen Bahngebäuden hängen Gedenktafeln zu Ehren der Arbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs gestorben sind.
Leider haben wir jetzt einen Grund, diese Tradition fortzuführen.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
7 Apr 2022
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Ukrainer, die ihre Heimatorte nicht verlassen wollen, werden häufig kritisiert. Dabei gibt es ganz verschiedene Gründe, in den Kriegsgebieten zu bleiben.
An diesem Mittwoch feiert die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Doch mehr als das bewegt die Menschen die Frage, ob sie den nächsten Winter überstehen.
Hundert Tage befand sich unser Autor in Lwiw. Jetzt ist er wieder in der Hauptstadt. Und merkt, dass dort nichts mehr ist wie früher.
Benzin ist schwer erhältlich. Das ist für Zivilisten schon lästig. Für Armee und kritische Infrastruktur aber ist es hochproblematisch.
Während ukrainische Frauen und Kinder vor dem Krieg ins Ausland geflohen sind, dürfen Männer nicht ausreisen. Viele stranden im grenznahen Lwiw.
Der Autor erlebt bereits den zweiten Krieg in seiner Heimat. Vor acht Jahren floh er vor Verfolgung aus seiner ostukrainischen Heimat.
Noch lange nach dem Zerfall der Sowjetunion waren persönliche Bindungen zwischen Russen und Ukrainern eng. Nach 2013 kühlten Beziehungen merklich ab.
Immer mehr Russ:innen suchen psychologische Dienste auf. Sie schämen sich für die Gräueltaten, die in ihrem Nachbarland passieren.
Die Kinder ahmen eine Sirene nach, die Freundin hat nicht mal die Fenster abgeklebt. Eindrücke aus dem Krieg in der belagerten Stadt Tschernihiw.
Das Rentner-Ehepaar Vartanjan musste 2014 aus Donezk fliehen. Jetzt gelang es ihnen, der Hölle in Mariupol zu entkommen. Die Geschichte einer Flucht.
Tausende Ukrainerinnen wollen ihr Land nicht verlassen. Mehr noch: Sie verteidigen ihr Land auf ihre Weise. Zwei von ihnen im Porträt.