taz.de -- Die Wahrheit: Dürfen, können, müssen

Menschen „mit viel Zeit und wenig Lebensmut“ und „einschlägigen Problemen“ sehen frühabends nur wegen der Werbung fern. Ein Erfahrungsbericht.
Bild: Im staubigen Arizona ging das Nässen gründlich daneben

Das Fernsehvorabendprogramm ist die Hölle. Gegen die geistige und moralische Enge heutiger Vorabendserien waren die Wochenschauen im „Dritten Reich“ Feuerwerke der Vielschichtigkeit.

Warum ich mir das trotzdem antue, hat einen schlichten Grund: die Werbung. Denn ich liebe Reklame. Im Kino ist sie das Einzige, das mich verlässlich zu Tränen rührt, so beispielsweise der jährliche Edeka-Weihnachtsspot (Charles Dickens meets Rosamunde Pilcher meets Miezekatze …). Oft gehe ich direkt im Anschluss nach Hause – scheiß auf den Film. Und im Fernsehen hat man, sofern man geschickt zappt, zwischen 18 und 20 Uhr fast nonstop Werbung.

Die obendrein auf die Bedürfnisse meiner Altersgruppe zugeschnitten ist. Denn wer sieht schon um diese Tageszeit fern? Menschen mit viel Zeit und wenig Lebensmut, dafür umso mehr Lebensjahren und einschlägigen Problemen.

Meine Lieblingsclips sind daher Kampagnen gegen Harndrang. Allein die fast schon aphoristischen Slogans der Hersteller von Kapseln gegen Blasenschwäche heben die Reklame als solche leuchtend vom Restprogramm und den Menschen in seiner Eigenschaft als gottbeseelter Schöpfer von allen anderen Wirbeltieren ab.

Gar nix mehr müssen können

„Weniger müssen müssen“, verspricht zum Beispiel Prostagutt Forte. Das ist genial, doch Granu Fink, der Hauptkonkurrent und damit Prostagutts ewige Nemesis unter Deutschlands größten Pinkelbremsen, weiß da sogar einen draufzusetzen: „Weniger müssen, besser können.“ Das geht natürlich noch weiter, da ist wirklich alles drin. Die Granu-People haben es gecheckt: Nicht müssen ist noch lange nicht gleich können – genau das ist die Achillesferse in der Deckung von Prostagutt Forte.

Da sieht man vor dem inneren Auge schon den verantwortlichen Agenturmitarbeiter den Thermobecher to Go aus Bambus, das MacBook Pro und ein Urlaubsbild mit Mutti auf Capri von seinem Schreibtisch bei Jung und Matt in die Pappschachtel räumen. Die Werbebranche ist ein Haifischbecken.

Wer jedoch als bloßer Konsument diesem intellektuellen Ringen zweier Pissgiganten um die flüssigere Formulierung, das blasenstärkere Argument, die potentere Philosophie beiwohnt, nimmt für das weitere Leben unendlich viel mehr mit, als ihm Eltern oder Lehrer jemals zu vermitteln vermochten. Exakt das ist es, was ich von einer guten Werbebotschaft erwarte: Herzensbildung, Ausformung einer humanistischen Geisteshaltung, ein visuelles Bootcamp für Empathie, Stil und Geschmack; dazu wertvolle Informationen, die die eigenen Überlebenschancen signifikant erhöhen und die Lebensqualität verbessern.

Nur deswegen also sehe ich frühabends fern. Zu meiner Ehrenrettung: Sobald nach der Reklame SOKO Entenhausen weiterläuft, geh ich Bier holen oder aufs Klo. Wenn die „Tagesschau“ beginnt, schalte ich ab. Nach 20 Uhr ist das Öffentlich-Rechtliche für mich tabu, weil die dann keine Werbung mehr zeigen.

13 Jan 2022

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Uli Hannemann

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