taz.de -- Menschenrechtler über Krieg in Äthiopien: „Wir sehen den Beginn von Hoffnung“
Äthiopiens wichtigster Menschenrechtler Daniel Bekele erhielt in Berlin den Deutschen Afrikapreis. Mit der taz sprach er über seine Arbeit.
Dieses Interview wurde am Tag der Preisverleihung an Daniel Bekele durch die Deutsche Afrika-Stiftung in Berlin am 18. November 2021 geführt. Die vollständige englische Originalfassung lesen Sie [1][hier].
taz: Herr Daniel Bekele, Glückwunsch zum [2][Deutschen Afrikapreis 2021]. Ist es nicht ein unglücklicher Zeitpunkt, um einen Menschenrechtspreis nach Äthiopien zu vergeben?
Daniel Bekele: Ich fühle mich geehrt. Es ist für Äthiopien eine schwere Zeit, aber der Preis stellt auch eine Anerkennung von Menschenrechtlern dar, die in einer sehr schwierigen Lage versuchen, ihre Arbeit zu machen.
Wie beeinflusst die Lage Ihre Arbeit? In Äthiopien herrscht Ausnahmezustand, Kritik daran ist verboten. Ist das für Sie ein Problem?
Nicht direkt, denn die Beobachtung der Menschenrechtslage auch im Ausnahmezustand gehört zu unserem Mandat. Erst am Mittwoch äußerten wir menschenrechtliche Sorgen über eine Verhaftungswelle.
Da [3][merkten Sie an], dass Sie nicht in der Lage waren, Informationen über Verhaftungen im Ausnahmezustand zu sammeln und darüber einen Bericht zu erstellen. Können Sie praktisch arbeiten?
In manchen Haftanstalten wird mit uns kooperiert, und wir erhalten Zugang. In anderen kooperiert das Sicherheitspersonal nicht mit uns. Aber das gibt es auch ohne Ausnahmezustand. Das Gesetz erlaubt uns ungehinderten Zugang. Manche Ordnungskräfte müssen das erst noch lernen.
Ihre Menschenrechtskommission EHRC hat gemeinsam mit der UN-Menschenrechtskommission den Tigray-Krieg untersucht. [4][Der Bericht] sorgte für Aufsehen, und es gab auch [5][Kritik], die Regierung habe die Untersuchung beeinflusst. Stimmt das?
Das stimmt überhaupt nicht. Manche mögen meiner Kommission misstrauen, aber hoffentlich vertrauen sie der UNO, und die UNO hat dies nicht gemacht, um sich vom Staat beeinflussen zu lassen. Ich verstehe, wo Kritik herkommt, und wir sind dafür offen, aber es gab auch unfaire und falsche Anschuldigungen.
Gehen wir einige Anschuldigungen durch. Erstens: Ethnische Tigrayer wurden aus der Untersuchung ausgeschlossen …
Völlig falsch. Die EHRC hat keine ethnischen Tigrayer ausgeschlossen, es gab zwei im Team bis zum Schluss.
Zweitens: Sie konnten nur Orte aufsuchen, die Ihnen die Regierung erlaubte, also konnten Sie viele notwendige Orte nicht erreichen.
Das war eine der großen Einschränkungen des Berichts, und das steht da auch drin. Wir hatten eine Liste von Orten, aber wegen der Realität auf dem Terrain – nämlich des Rückzugs der Regierung aus Tigray – konnten wir in Teile Tigrays nicht hinein, da die TPLF die gemeinsame Untersuchung nicht akzeptierte. Das und die Sicherheitslage waren die Hauptgründe. Aber wir sprachen mit Vertriebenen aus diesen Gebieten. Der Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber er gibt das Gesamtmuster wieder.
Es gab Streit über die Kommunikation des Teams: Satellitentelefone wurden bestellt und dann nicht freigegeben.
Auch das war eine Einschränkung, die im Bericht steht. Die Teammitglieder brauchten Satellitentelefone zu ihrer Sicherheit in Gebieten, wo es kein Telefonnetz gibt. Aber die Regierung brauchte unnötig lange, um sie freizugeben, also bewegte sich das Team ohne diese Mittel. Das kompromittierte die Sicherheit unserer Mitarbeiter, aber zum Glück passierte nichts, und ihre Arbeit, also die Informationsgewinnung mit Opfern, Zeugen und Familien, wurde nicht beeinträchtigt.
Und noch eine Kritik: Opfer hätten nicht frei reden können, weil manchmal Sicherheitspersonal in Zivil das Team begleitete. Stimmt das?
Überhaupt nicht. Wir haben nie Interviews in Anwesenheit Dritter geführt. Das ist in jeder Menschenrechtsuntersuchung Standard. Es gab Leute von der EHRC und UNO, niemand sonst.
Was sollte nun aus dem Bericht folgen?
Ich hoffe auf drei Konsequenzen. Erstens: dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden, auf allen Seiten. Ich würde mich freuen, wenn Regierungen, besonders die äthiopische, praktische Schritte wie vertiefte Strafermittlungen einleiteten. Zweitens: Wiedergutmachung für Opfer. Das Leben vieler Menschen ist völlig zerstört. Viele sagen uns immer wieder: Wir wollen unser Leben zurück. Sie haben ihr Eigentum verloren, ihre Nächsten, sie wurden vertrieben. Das ist sehr wichtig. Und zuletzt hoffe ich, dass der Bericht eine Grundlage für die Suche nach einer nachhaltigen Lösung des Problems darstellt. Es ist politisch und muss politisch gelöst werden.
Wie könnte eine nachhaltige Lösung aussehen?
Der erste Schritt wäre eine Einstellung der Kämpfe. Die Gewehre müssen schweigen, auf beiden Seiten. Dann braucht es vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten. Alle Seiten werden Forderungen und Fragen haben, und man muss darüber einen Gesprächsprozess in Gang setzen. Aber zuerst müssen die Waffen schweigen, es muss ungehinderten humanitären Zugang geben, und die Menschen müssen zusammengebracht werden, um ihre Differenzen friedlich zu lösen.
Sehen Sie den Willen dazu bei den Konfliktparteien?
Es ermutigt mich, dass aufgrund der Bemühungen des Sonderbeauftragten der AU, mit denen der USA und EU im Hintergrund, beide Seiten zugestimmt haben, dass das Problem eine politische Lösung erfordert. Das übersetzt sich noch nicht in praktisches Handeln, aber ich glaube, dass wir den Beginn von Hoffnung in dieser Krise sehen.
Zugleich gibt es [6][Hetze und Hassreden] auf Regierungsseite gegen Tigrayer, was diese dazu bringt, von einem Völkermord zu sprechen, zumindest von seiner Vorbereitung. Was sagen Sie dazu?
Die gemeinsame Untersuchung hat zahlreiche Übergriffe identifiziert, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, aber nicht die rechtlichen und praktischen Elemente, die das Verbrechen des Völkermords ausmachen. Das ist ein Rechtsbegriff, und man muss damit vorsichtig umgehen. Leider verwenden viele in Äthiopien diesen Begriff. Fast jede ethnische Gruppe Äthiopiens würde Ihnen sagen, dass sie Opfer eines Völkermords ist. Sie denken, alle ethnischen Angriffe und Tötungen sind Völkermord. Aber die Rhetorik, von der Sie sprechen, macht mir Sorgen. Sie ist hetzerisch, auf allen Seiten. Wir haben alle Seiten, ihre Unterstützer und Medien aufgerufen, von Hassreden, Hetze und Entmenschlichung abzusehen. Es ist ein sehr polarisiertes, vergiftetes politisches Umfeld.
Hat sich Äthiopiens ethnische Polarisierung in den letzten Jahren verschlimmert?
Auf jeden Fall. Die ganze Idee, Äthiopiens politische Struktur nach Ethnien zu organisieren, hat die Gemeinschaften nach Ethnien geteilt. Diese Idee sollte historische Benachteiligung von Ethnien wiedergutmachen, aber sie hat mehr Probleme geschaffen als gelöst. Äthiopien braucht als Vielvölkerstaat ein föderales System, aber ob das auf Ethnien gründen muss, ist eine der großen Fragen, über die Äthiopier sprechen müssen. Denn es hat zu den Konflikten beigetragen.
Geht Premierminister Abiy Ahmed diese Probleme an? Oder gießt er Öl ins Feuer?
Ich hoffe, der Premierminister nimmt seine Verantwortung ernst. Dass er die Befunde unserer gemeinsamen Untersuchung positiv aufgenommen hat, ermutigt mich. Es ist das erste Mal, dass eine äthiopische Regierung positiv auf Menschenrechtskritik reagiert.
Sind Sie Optimist oder Pessimist zu Äthiopiens Zukunft?
Ich bleibe voller Hoffnung, trotz der deprimierenden Geschichten, die wir dokumentieren. Äthiopier sind die Ersten, die Opfern helfen, unabhängig von Ethnie. Sie nehmen Vertriebene auf, retten Nachbarn und Freunde auch bei schlimmen Massakern. Dieser traurige Krieg hat die Gesellschaft und menschliche Beziehungen zerrissen, und es wird lange dauern, die Wunden zu heilen. Aber ich glaube, es besteht noch Hoffnung für Äthiopien, diese schwere Zeit zu überwinden.
18 Nov 2021
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Hunderttausende Leben hat der Krieg in Äthiopien bereits gefordert. Nun stehen beide Seiten unter Druck, einen Friedensprozess anzustoßen.
Das Parlament beendet vorzeitig den im November verhängten Ausnahmezustand. Doch die nationalistische Amhara-Miliz sabotiert einen Dialog.
Tigrays Rebellen haben sich zurückgezogen und machen den Weg für humanitäre Hilfe frei. Doch die äthiopische Regierung denkt nicht an Frieden.
Wendepunkt im Krieg in Äthiopien: Die Aufständischen haben angekündigt, sich nach Norden zurückziehen. Man wolle so „die Tür für humanitäre Hilfe öffnen“, heißt es.
Die US-Regierung verhängt Strafen gegen Eritrea wegen des Eingreifens in Tigray. Außenminister Blinken reist in die Region.
In Äthiopien schreitet die Verfolgung der Tigrayer voran. Die Parallelen zur Vorbereitung des Genozids an Ruandas Tutsi 1994 sind unübersehbar.
Ein Bericht der UN-Menschenrechtskommission geht Verbrechen in der Kriegsregion Tigray nach. Über sein Zustandekommen wird heftig gestritten.