taz.de -- Coronaproteste in Europa: Non, no und όχι

Weil mehrere europäische Länder die Regeln für Ungeimpfte verschärfen, formiert sich Protest. Auch in Deutschland ist die Debatte angekommen.
Bild: Sind gegen Nachteile für Ungeimpfte: Demonstrierende am Samstag in Athen

Berlin taz | In mehreren europäischen Ländern haben am Wochenende Menschen gegen verschärfte Coronamaßnahmen protestiert. Allein in Frankreich gingen am Samstag landesweit rund 160.000 auf die Straße, [1][um ihren Unmut über die Coronapolitik von Präsident Emmanuel Macron kundzutun.] Auch in Griechenland und Italien demonstrierten nach Medienberichten Tausende gegen Nachteile für Ungeimpfte, vereinzelt kam es zu Ausschreitungen. In Paris setzte die Polizei Tränengas ein. In Athen nahm die Polizei am Samstagabend 25 Menschen vorübergehend fest, nachdem Demonstrant:innen auf dem Syntagmaplatz mit Brandsätzen und Steinen geworfen hatten.

In allen drei Ländern haben die Regierungen auf die zuletzt stark gestiegenen Inzidenzzahlen reagiert und eine Impfpflicht für Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen eingeführt, Italien zusätzlich auch für Lehrer:innen, Frankreich zudem für Feuerwehrleute. Dazu haben Paris, Athen und Rom weitere Verschärfungen im öffentlichen Raum beschlossen, die bei einem Teil der Bürger:innen offensichtlich nicht gut ankommen.

In Griechenland dürfen nur noch Geimpfte in Clubs und Theater gehen, in Italien gilt ab dem 6. August eine Passpflicht in Innenräumen von Restaurants, Kinos oder bei Fernreisen in Bus und Bahn. Den erforderlichen „grünen Pass“ erhält, wer einmal geimpft ist, von einer Covid-19-Erkrankung genesen ist oder einen aktuellen negativen Coronatest vorweist.

Ähnliche Regeln hat die französische Nationalversammlung am Freitag abgesegnet. Der „Gesundheitspass“, wie das Pendant in Frankreich heißt, soll ab August gelten. Wer von der Impfpflicht betroffen ist, hat bis 15. September Zeit, sich immunisieren zu lassen. Ansonsten droht – ähnlich wie ab 1. September in Griechenland – ein Berufsverbot. Gesundheitsminister Olivier Véran versprach ein Ende der Einschränkungen, wenn „90 oder 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind“. Aktuell sind in Frankreich 48 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Die 7-Tage-Inzidenz lag am Sonntag bei dem Wert 181,6 – eine Woche zuvor lag sie noch bei 81.

Bundesregierung schloss Impfpflicht aus

Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) befürchtet wegen der hochansteckenden Deltavariante eine ähnliche Entwicklung auch für Deutschland. Zuletzt lag die 7-Tage-Inzidenz hierzulande bei niedrigen 13,8. Aber: „Die Zahl der Neuinfektionen steigt noch schneller als in den vorherigen Wellen. [2][Das macht mir große Sorge“, sagte Braun am Wochenende der Bild am Sonntag.]

Derzeit stiegen die Fallzahlen jede Woche um 60 Prozent. Sollte sich die Impfquote nicht enorm verbessern oder sich das Verhalten der Bürger ändern, könne es zur Zeit der Bundestagswahl im September jeden Tag 100.000 Neuinfektionen und eine Inzidenz von 850 geben, so Braun. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte vor einer Inzidenz von 800 im Oktober gewarnt, [3][Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach vergangene Woche von einer „besorgniserregenden Dynamik“.]

Eine Impflicht wie in Frankreich hatte die Bundesregierung in der Vergangenheit jedoch explizit ausgeschlossen. Wie sie aber die – wegen der Deltavariante hochgestufte – Herdenimmunität von 85 Prozent erreichen will, ist unklar. Aktuell sind 49,1 Prozent vollständig geimpft, und das Impftempo sinkt.

Kanzlerin Merkel appellierte zuletzt an alle Geimpften, Freunde und Verwandte zu überzeugen. Kanzleramtschef Braun versucht es nun mit einer anderen Strategie: Er spricht die Nachteile an, mit denen Nichtgeimpfte bei hohen Inzidenzzahlen rechnen müssten. Laut Braun hieße es dann: Kontakte reduzieren und auf Restaurants, Kino und Stadionbesuche verzichten. „Geimpfte werden definitiv mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte“, so Braun. Das sei rechtlich zulässig, weil der Staat diejenigen schützen müsse, die sich nicht impfen lassen können, wie Kinder unter 12 Jahren.

Kretschmann zeigt sich bereit

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) bezeichnete mehr Rechte für Geimpfte als verfassungswidrig. Dies käme einer „Einführung der Impfpflicht durch die Hintertür“ gleich. Seine Partei schlägt vor, den Unterlagen zur Bundestagswahl, die demnächst verschickt werden, Einladungen zur Corona-Impfung beizulegen.

Auch Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat sich am Sonntag von dem Vorstoß seines Parteikollegen Braun distanziert. [4][Im ZDF-Sommerinterview sagte Laschet, er „halte nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen“.] Ähnlich äußerte sich am Sonntag auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hingegen hält es für möglich, „dass wir irgendwann gewisse Bereiche und Tätigkeiten nur noch für Geimpfte zulassen“. Selbst eine Impfpflicht schließt Kretschmann nicht aus – aber nur sofern neue Varianten auftreten, die „dies erforderlich machen“.

25 Jul 2021

LINKS

[1] /Proteste-in-Frankreich/!5787369
[2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/helge-braun-im-bild-interview-geimpfte-werden-mehr-freiheiten-haben-77179202.bild.html
[3] /Fallzahlen-steigen-Impftempo-sinkt/!5787124
[4] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/cdu-laschet-zdf-sommerinterview-100.html

AUTOREN

Ralf Pauli

TAGS

Schwerpunkt Coronavirus
Griechenland
Schwerpunkt Frankreich
Verschwörungsmythen und Corona
Impfung
Kyriakos Mitsotakis
Verschwörungsmythen und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Papierlose

ARTIKEL ZUM THEMA

Griechenlands Gesundheitswesen: Kein Piks, kein Job, kein Geld

Im griechischen Gesundheitssystem herrscht Impfzwang. Für Angestellte, die sich nicht impfen lassen, hat das drastische Konsequenzen.

QAnon-Bewegung in der Pandemie: Antisemitismus und Corona

Die QAnon-Bewegung zeigt, wie Antisemitismus um sich greift. Das American Jewish Committee Berlin warnt davor, die Q-Anhänger zu unterschätzen.

Frankreichs Verfassungsrat zu Covid-Pass: Grünes Licht für Kontrollen

Frankreichs oberstes Verfassungsgericht hat keine Einwände gegen die Impfpflicht für Gesundheitspersonal. Auch der Gesundheitspass ist rechtens.

Corona-Proteste in Frankreich: Für Macron ungefährlich

Frankreichs Demonstrant:innen sind zu heterogen, als dass sie der Opposition für die Wahlkampagne nützen könnten. Die Regierung kann gelassen bleiben.

Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Streit um Sanktionen für Ungeimpfte

Kanzleramtsminister Helge Braun verteidigt die Forderung, Rechte von Impfweigerer einzuschränken – andere widersprechen. Die Infektionszahlen steigen weiter.

Berliner Inzidenzwerte steigen wieder: Eine Corona-Ampel leuchtet Gelb

Sind die Inzidenzwerte von über 20 ein Grund zur Sorge? Nein und Ja, meint unser Kommentator. Übers Impfen – und darüber, warum die Zeit drängt.

Impfdurchbrüche bei Covid-19: Impfen schützt

Schwer krank trotz Corona-Impfung? Solche Berichte aus Großbritannien klingen beunruhigend. Dennoch: Der Schutz durch die Spritzen ist hoch.

Impfungen für papierlose Menschen: Der Piks für wirklich alle

Auch Illegalisierte oder Menschen ohne Krankenversicherung können sich in Berlin mittlerweile impfen lassen. Es gibt niedrigschwellige Angebote.