taz.de -- Schwarz-Grüne Sozialpolitik: Die biegsame Ökopartei
Unter einer schwarz-grünen Bundesregierung könnte Sozialpolitik an Bedeutung verlieren. Reiche müssen keine Angst vor einer solchen Koalition haben.
Die Grünen sind sehr flexibel. Das ist historisch erwiesen. Man erinnere sich an die Einführung der Hartz-Gesetze 2002. Damals regierte Rot-Grün. Und grüne Finanzpolitiker meinten damals, dass mehr Selbstverantwortung statt mehr Staat eine feine Sache sei und mehr Aktienbesitz für die Mittelschichten einen Teil der Gerechtigkeitsprobleme lösen würde.
Dass die Grünen an der Einführung von Hartz IV beteiligt waren, haben die meisten vergessen. Deutschland bewegt sich auf eine neue Regierungskoalition zu und die Frage lautet: Was wird eigentlich sozialpolitisch passieren, wenn Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz an die Macht kommt? Wird vieles anders? Oder wird die Sozialpolitik sanft in den Hintergrund gedrängt, weil die Grünen in höherer Mission, sprich Klimaschutz, unterwegs sind?
Sozialpolitik ist komplex, unsexy und undankbar. Ihr Kernstück ist der Erhalt und Ausbau kollektiver Sicherungssysteme. Wer dabei zu geben hat und wer unterstützt werden muss, darüber gehen die Meinungen der WählerInnen je nach Perspektive auseinander. Die haushaltspolitischen Voraussetzungen für einen Ausbau der kollektiven Sicherungssysteme dürften in Post-Corona-Zeiten zudem nicht besonders gut sein.
Wenn Grüne nach der Wahl das Ministerium für Arbeit und Soziales oder für Gesundheit übernähmen, würden sie direkt in das Schlammloch ungelöster Verteilungsfragen hineinspringen. Dort verkämpft sich die SPD seit Jahren für kleine Erfolge, die kaum jemand wahrnimmt. Wer hat die Einführung des Rentenzuschusses der „Grundrente“ – der Stolz von SPD-Sozialminister Hubertus Heil – bemerkt und honoriert? Eben.
Schwarz-Grün wird kaum mehr Geld von den Reichen nehmen, um es irgendwie der Mittelschicht und den Armen zu geben. Nicht nur, weil mit der Union keine vermögensteuerliche Belastung von Familienunternehmen zu machen ist.
Die Grünen sind schon von sich aus anpassungsbereit. Bei einer Vermögensteuer von 1 Prozent sollen Singles einen Freibetrag von 2 Millionen Euro, Paare von 4 Millionen Euro haben, so steht es im grünen Wahlprogramm. Betriebe sollen besonders geschützt bleiben. Reiche müssen keine Angst vor Schwarz-Grün haben.
Das Sozialprogramm der Grünen ist in vielerlei Hinsicht eine Art „SPD light“. Allerdings mit etwas mehr Hartz IV, bei den Grünen „Garantiesicherung“ genannt. Die Grundsicherung soll als „Garantiesicherung“ ohne „bürokratische“ Sanktionen kommen, die Regelsätze „schrittweise“ erhöht, die Leistungen „individualisiert“ werden.
Die interessante Frage lautet, wie da die Schnittmenge zur Union und zur angespannten Haushaltslage hergestellt werden könnte. Große Sprünge bei den Regelsätzen dürften nicht drin sein. Aber Zuschüsse für einmalige Leistungen, für die oft zitierten kaputten Kühlschränke und Waschmaschinen, wären bei einer „individualisierten“ Grundsicherung vielleicht denkbar.
12 Euro Mindestlohn mit der Union?
Die Grünen fordern wie auch die SPD einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro. Gut so. In Post-Corona-Zeiten wird es aber heikel, RestaurantbetreiberInnen und anderen KleinunternehmerInnen Personalkostensteigerungen von mehr als 20 Prozent in Aussicht zu stellen. Darauf wird die CDU hinweisen.
Man kann sich schon jetzt vorstellen, wie sich SPD-PolitikerInnen in der Opposition gemütlich zurücklehnen und den Grünen nicht ohne Schadenfreude dabei zusehen, wie sie sich an Verteilungsfragen abrackern, wegen denen sich die Sozialdemokraten blutige Nasen und schlechte Wahlergebnisse geholt haben.
Die Mittelschicht, die vom Selbstverdienten die private Altersvorsorge, möglichst auch Immobilieneigentum, finanzieren soll, hat wenig Verständnis für höhere Beiträge – für was auch immer. Die Grünen wollen, dass auch auf Kapitaleinkommen Krankenversicherungsbeiträge entrichtet werden müssen. So hat es die SPD schon vor Jahren mit den Betriebsrenten gemacht und sich wütenden Widerstand gegen diese „Doppelverbeitragung“ eingehandelt. Minijobs abschaffen, Selbstständige in die Rentenkasse zwingen – vieles im grünen Sozialprogramm hat auch die SPD schon mal versucht oder angekündigt.
Ungeklärte Verteilungsfragen
Doch die Fronten in den Verteilungsfragen sind eben nicht geklärt. In der Pflege wollen fast alle Parteien, auch die Grünen, dass die Löhne steigen und die Heime mehr Personal haben, dass aber die Pflegebedürftigen und ihre Familien trotzdem kaum mehr Eigenanteile bezahlen müssen. Woher soll das Geld dann kommen? Durch höhere Pflegeversicherungsbeiträge von den ArbeitnehmerInnen? Durch milliardenschwere Zuschüsse aus der hochverschuldeten Staatskasse? Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verkämpft sich gerade an diesem Problem.
Am Ende bleiben den Grünen vielleicht kleine milieuspezifische Erfolge, wie sie im grünen Wahlprogramm versprochen werden. Es gibt dann mehr Psychotherapieplätze. Verarmte Kleinselbstständige in Privatkassen werden unterstützt. Und Brillen werden wieder grundsätzlich von den Krankenkassen bezahlt.
An den großen Sicherungssystemen für Pflege, Gesundheit und Alter wird sich aber wohl nicht viel ändern. Lebensrisiken einer alternden Gesellschaft zu bewältigen – das könnte sogar wieder mehr auf die Individuen verlagert werden.
Das Gefälle zwischen Reich und Arm aber bleibt. Es wird dann vielleicht in Räumen fern der Regierungspolitik verhandelt. Diese Radikalisierung lässt sich schon jetzt beobachten. In Berlin ist eine Enteignungskampagne gegen Wohnungsbaugesellschaften populär. Es gibt Initiativen für neue Vermögensabgaben der Reichen. Die Klassenfrage durchdringt Literatur und Popkultur. Die Frage wird sein, ob und wie die Grünen die Wut im außerparlamentarischen Raum noch mit eigener Regierungspolitik verbinden können. Oder ob sie wie die SPD an dieser Kluft scheitern.
19 May 2021
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