taz.de -- Kriegsfotograf in Berlin 1945: Erwachen aus einem bösen Traum

Valery Faminsky, Soldat und Frontfotograf, arbeitete im Mai 1945 in Berlin. Seine Bilder zeigen das Elend der sowjetischen Soldaten und der Berliner.
Bild: Der zerstörte Reichstag 1945 in Berlin, fotografiert von Valery Faminsky

Auf einer der Fotografien hängt ein blütenweißes Plakat an einer Wand, mit dem das letzte Aufgebot gerufen wird. Die „Wehrmachtkommandatur Berlin“ erlässt den Befehl an „Urlauber und Dienstreisende der Wehrmacht“, sich „mit Waffen, Munition, Gepäck und Verpflegung“ in der Seeckt-Kaserne in Spandau einzufinden – und zwar „bei Ausfall der Verkehrsmittel“ dann eben zu Fuß, aber auf jeden Fall „heute noch“.

Das „heute noch“ ist besonders fett gedruckt, aber wann dieses „heute“ war, ist nicht ganz klar: Gezeichnet ist das Plakat mit „Berlin, 1945“. Das genaue Datum ist im hektischen Chaos der allerletzten Tage der Schlacht um Berlin frei geblieben, aber es muss aus diesen Tagen stammen, denn das Foto von Valery Faminsky, auf dem ein Mann teilnahmslos am Plakat vorbei in die Ferne blickt, stammt aus dem Mai 1945 und das dünne Papier ist unversehrt, als wäre es erst Stunden zuvor an die unverputzte Mauer gekleistert worden.

Dies ist eines der vielen Details auf den Fotos von Faminsky, an denen die Diskrepanz deutlich wird, die sich auftat in diesen Wochen nach der Kapitulation. Als der Krieg, so total, wie ihn Joseph Goebbels den Deutschen versprochen hatte, nach der Kapitulation am 8. Mai von einem Tag auf dem anderen abgelöst wurde von einer seltsamen Leere. Die springt einen nachgerade an in den Bildern, die der sowjetische Frontfotograf in der eroberten Reichshauptstadt schoss – und die nun ab dem 1. Mai in einer virtuellen Ausstellung des Verlag und Galerie Buchkunst Berlin zu sehen sind.

Die Opfer des Krieges

Auf den Bildern werden nicht nur die Zerstörungen festgehalten, wird nicht nur die Kapitulation verlesen und paradiert, um den Sieg zu feiern, sondern vor allem zu sehen ist das Elend der sowjetischen Soldaten und der deutschen Zivilbevölkerung, ein gemeinsames Elend. Sieger und Besiegte rücken zusammen auf diesen Fotos, sie sind alle Menschen, Opfer des Krieges, die in den wüsten Straßen nach Essbarem suchen oder im Lazarett verpflegt werden.

Faminsky hat dieses Elend mit seiner Kamera, aber vor allem mit einem – wo der Krieg und [1][die deutschen Gräuel], die vor allem in Osteuropa, vor allem in der Sowjetunion begangen wurden, erst Tage vorüber waren – unglaublich humanen Blick eingefangen.

Dass diese Fotos überhaupt zu sehen sind, haben wir dem ukrainischen Fotografen Arthur Bondar zu verdanken, der 2016 den Erben Faminskys die gut 500 Negative abkaufte, die sie online angeboten hatten. Zwei Jahre später gründete sich der Verlag Buchkunst Berlin vor allem deshalb, um diese Bilder als Buch herauszubringen.

Die Bilder dürfen für sich sprechen

Nun, in der Ausstellung werden sie anlässlich des Jahrestags der Befreiung am 8. Mai technisch anspruchsvoll, aber denkbar schlicht präsentiert: In drei virtuellen Räumen hängen die Bilder an der Wand, wenige kurze Texte dokumentieren die Biografie Faminskys und die Wiederentdeckung seiner Fotos. Ansonsten dürfen die Bilder für sich sprechen.

Der damals 30-Jährige war mit den ersten Truppen der Roten Armee bereits am 26. April 1945 nach Berlin gekommen, wo ein erbarmungsloser Kampf um jedes Haus herrschte. Schon am 22. Mai kehrte er mit seinen Fotos nach Moskau zurück, veröffentlichte sie aber nie.

In seinem „Autobiografie“ genannten Lebenslauf aus dem Buch „Berlin Mai 1945“, das die Grundlage für die Ausstellung bildet, bezeichnet sich Faminsky zuerst als „Veteran des Krieges und der Arbeit“ und erst an zweiter Stelle als „Fotojournalist“, und er beschreibt die entscheidenden, von ihm dokumentierten Wochen denkbar trocken: „Vom 22. April bis 24. Mai 1945 fotografierte ich die Einnahme der Berliner Vorstädte und der Innenstadt.“

Eindrückliche Aufnahmen

Umso eindrücklicher sind die Aufnahmen, die ihm gelungen sind. Die Einschusslöcher sind noch frisch, wie neu gemustert wirken die Säulen, zwischen denen zwei Rotarmisten auf die sonnenbeschienene Spree hinausblicken. Es ist eine unheimliche Idylle, die auch andere Bilder zeigen: Die Soldaten, die nach der Schlacht in den Seelower Höhen eine Pause machen, auf dem Tisch eine Spitzendecke und der Panzer geparkt zwischen zwei geduckten Häusern, als wären sie nur zu Besuch.

Der einsame Radfahrer, der die Weite des verwaisten Ostbahnhofs durchquert. Ja, sogar die bizarre Landschaft aus löchrigen Ruinenzähnen, die vom Spittelmarkt geblieben ist, wirkt wundersam friedlich.

Oder die ältere Dame, die auf dem Bordstein des Gehwegs sitzt, den geöffneten Koffer neben sich, die schicken Stöckelschuhe vor sich, und hoffnungsvoll lächelnd in die Kamera blickt: Das Berlin, das Faminsky in diesen wenigen Wochen porträtiert, blinzelt unsicher, als wache es gerade aus einem bösen Traum auf. Frieden, das scheinen die Menschen auf diesen Fotos zu spüren, ist erst einmal nicht mehr als die Abwesenheit von Krieg. Der Rest ist ein großer Freiraum, den es zu füllen gilt, und diesen Freiraum, diesen Leerstand vor allem zeigen Faminskys Fotos.

30 Apr 2021

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AUTOREN

Thomas Winkler

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