taz.de -- Dokumentarfilmer im Stream: Präzise Spurensicherungen

Im Streamingbereich des Kino Arsenal ist eine Werkschau von Philip Scheffner zu sehen – einem der wichtigsten Dokumentarfilmer der Gegenwart.
Bild: In „Havarie“ ist ein in Seenot geratenes Schlauchboot Ausgangspunkt des Films

Eine Stimme erklingt umgeben vom Knistern und Knacken einer Schellackplatte: „Es war einmal ein Mann. Er ging in die britische Armee. Der Mann zog in den europäischen Krieg. Deutschland nahm diesen Mann gefangen. Er wünscht, nach Indien zurückzukehren.“

Im Dezember 1916 spricht der Inder Mall Singh, geboren im Punjab im Norden Indiens, diese Worte im Kriegsgefangenenlager im brandenburgischen Wünsdorf in den [1][Trichter einer Tonaufzeichnung]. Der Essayfilm „The Halfmoon Files“ von Philip Scheffner begibt sich ausgehend von Tonaufnahmen wie jener von Mall Singh auf Spurensuche.

Einerseits dokumentiert der Film die Suche nach Angehörigen Singhs, andererseits ist er eine beispielhafte Dokumentation der Recherchen zu den Hinterlassenschaften des deutschen Kolonialismus und der Frage, wie man mit Objekten wie den Schellackplatten mit den Stimmen heute umgehen soll. „The Halfmoon Files“ ist unterdessen 15 Jahre alt, aber noch immer so aktuell wie bei seiner Entstehung. Scheffners Spurensicherungen einer Geistergeschichte sind das Film gewordene Gegenprogramm zu den kommenden Raubkunstausstellungen im Humboldt-Forum.

Transnationale Geschichten

„The Halfmoon Files“ ist Ausgangspunkt einer Scheffner Werkschau, die das Berliner Kino Arsenal nun in seinem Streamingangebot Arsenal 3 präsentiert. Gerade einmal vier Langfilme umfasst sein Werk bislang, doch mit diesen vier Filmen hat er sich als einer der wichtigsten deutschen Dokumentarfilmer der Gegenwart etabliert.

In jedem der Filme hat sich Scheffner transnationaler Geschichten angenommen. Die persönlichen Geschichten sind in den Filmen Scheffners Ausgangspunkt zu Blicken auf Themen der Gegenwart, die etwas unterhalb der Oberfläche liegen.

In „Der Tag des Spatzen“ von 2010 etwa geht es um Vogelbeobachtungen, um das Verwischen der Grenze zwischen Krieg und Frieden und die Inszenierungen der Verhaftungen einer militanten Gruppe durch die Bundesanwaltschaft. Zwei Jahre später greift „Revision“ den Tod zweier zweier rumänischer Staatsbürger in einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze auf – sie waren beim Versuch, die EU-Außengrenze zu überschreiten, von Jägern in einem Feld in Mecklenburg-Vorpommern erschossen worden.

Der Film kombiniert eine penible Recherche, Zeugenaussagen und Landschaftsaufnahmen. Vor allem die ersten drei Filme Scheffners nutzen Landschaftsaufnahmen einerseits als Reflexionsraum, in der Montage werden deutsche Landschaften aber auch als Schauplätze gewalttätiger Zugriffe sichtbar.

Bevor Scheffner sich mit „The Halfmoon Files“ aufs Filmemachen verlegte, war er in den 1990er Jahren Teil Autoren- und Videokollektivs dogfilm. Auf jene Zeit geht auch die Zusammenarbeit mit der Autorin und Produzentin Merle Kröger zurück. Nicht zuletzt sind Scheffners Filme oft Teil größerer Projektkontexte: bei „The Halfmoon Files“ arbeitete er mit der Wissenshistorikerin Britta Lange zusammen. Die Recherchen zu „Revision“ und „Havarie“ führte neben dem Film zu einem Roman von Kröger und zu einem Hörspiel.

Labor für den Dokumentarfilm

In Scheffners beiden bislang letzten Filmen „Havarie“ und „And-ek ghes“ weitet sich das Themenfeld noch einmal. Die beiden Filme gemeinsam auf der Berlinale 2016 Premiere. „Havarie“ entwickelt ausgehend von der Sichtung eines in Seenot geratenen Schlauchboots im Mittelmeer ein Gruppenporträt zwischen Migration und Reise. „And-ek ghes“, den Scheffner gemeinsam mit Colorado Velcu realisierte, greift die Zusammenarbeit aus „Revision“ auf. Der Film zeigt das Ankommen der Familie Velcu in Berlin zwischen Dokumentation und Selbstinszenierung.

In den letzten Jahren hat bei Scheffner die Tätigkeit für die von ihm und Merle Kröger gegründeten Produktionsfirma pong gegenüber eigenen Filmen überwogen. Im gleichen Zeitraum haben Scheffner und Kröger sich Mitstreiter:innen unter jungen Dokumentarfilmer:innen gesucht. Mit Filmemacherinnen wie Alex Gerbaulet und Mareike Bernien haben die beiden pong zu einem der interessantesten Labore für dokumentarischen Film in Deutschland entwickelt.

Dieses Zurücktreten verweist auf einen angenehmen Zug an der Arbeit von Scheffner und Kröger: ihre Projekte sind uneitle, präzise Interventionen in die Selbstentwürfe deutschen Alltags. Dank dem Arsenal kann man den Filmen Philipp Scheffners nun wieder begegnen.

31 Dec 2020

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AUTOREN

Fabian Tietke

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