taz.de -- Corona-Infektionen: Schluss mit dem Jugendbashing
Die Rücksichtslosigkeit der Jugend soll für den Anstieg der Infektionen verantwortlich sein. Doch Belege fehlen für diese andauernden Vorwürfe.
Corona könnte längst vorbei sein – wären da nicht diese jungen Leute. So klingt es, wenn man insbesondere in Berlin in den vergangenen Wochen die öffentliche Debatte um den erneuten und mittlerweile massiven Anstieg der Neuinfektionen verfolgt. Im März wurden dieser Altersgruppe [1][die mysteriösen „Corona-Partys“] vorgeworfen, Feiern, bei denen sich Menschen absichtlich mit dem Virus infizieren. Belege dafür gab es kaum, mittlerweile ist es das Verhalten junger Leute ganz allgemein, das für den Anstieg verantwortlich sein soll. Es passt ja auch so schön: Die haben selbst wenig Angst vor Ansteckung, also scheißen sie auf jede Regel und feiern sieben Tage durch – leichtsinnig, rücksichtslos, ignorant. [2][Die Berliner Antwort:] Sperrstunde ab 23 Uhr und ein Verbot, sich nachts und draußen mit mehr als fünf Personen zu treffen.
Lassen wir mal außen vor, dass erneut vor allem das Freizeitverhalten in den Blick genommen wird, als würden sich Viren nicht am Arbeitsplatz verbreiten können. Lassen wir ebenfalls außen vor, wie sinnvoll es ist, angesichts des aktuellen Wissensstands über die Übertragung des Coronavirus ausgerechnet Zusammenkünfte unter freiem Himmel zu verbieten. Ganz grundsätzlich gilt: Die Frage, ob es überhaupt stimmt, dass junge Leute sich rücksichtsloser verhalten als ältere Menschen, stellt kaum jemand.
Könnte daran liegen, dass man sich dann von einem liebgewonnenen Sündenbock verabschieden müsste. Denn wissenschaftlich haltbar ist sie nicht. [3][Die vielbeachtete Studie „Life with Corona“] etwa, für die ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Berliner Humboldt-Universität über sechs Monate fast 12.000 Menschen befragte, kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass sich die Altersgruppen in Bezug auf Vorsichtsmaßnahmen – Maske tragen, Menschenansammlungen meiden, Hände waschen und einiges mehr – nur minimal unterscheiden, sowohl weltweit als auch in Deutschland.
Die Studie ergab auch: Gefragt, auf wie viel von ihrem Jahreseinkommen sie verzichten würden, wenn es dadurch möglich wäre, die Pandemie zu stoppen, gaben jüngere Leute einen deutlich höheren Anteil an als Ältere. Klingt gar nicht mehr nach rücksichtslos und ignorant. Auch wenn viele es weiterhin nicht wahrhaben wollen: Was die weltweite Verbreitung des Coronavirus angeht, gibt es eben keine einfachen Schuldigen. Auch nicht junge Leute mit einem Bier in der Hand im Park, nur weil die keine Lobby haben.
11 Oct 2020
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Die Gesundheitsämter in den Bezirken gelten als Schlüssel im Kampf gegen die Pandemie. Aber die steigende Infektionszahlen zeigen die Grenzen auf.
Seit letzter Woche ist es Einwohner:innen von Corona-Risikogebieten verboten, anderswo in Hotels zu übernachten. Viele Politiker:innen halten das für falsch.
Endlich Herbstferien! Und weil man nicht verreisen kann, träumt man von besseren Zeiten. Oder steht auf: gegen Zwangsräumungen, und für Geflüchtete.
Der unbekannte Held Heinz Zellermeyer machte 1949 das Unmögliche möglich: die Abschaffung der Sperrstunde in Westberlin. Nun ist sie wieder da.
Für Kneipen und Bars ist die Sperrstunde eine Katastrophe. In der Branche herrscht eine große Wut gegenüber denen, die die Regeln ignoriert haben.
Sperrstunde und noch strengere Kontaktbeschränkungen für Privatfeiern sind beschlossen. Ein Interview mit Falko Liecke, Gesundheitsstadtrat von Neukölln.
Der Krankheit gemeinsam trotzen? Sorry, das ist fatal. Besser: Widerstand zeigen, indem wir zu Hause bleiben.