taz.de -- 30 Jahre Einheit am Erfurter Kreuz: Die verlängerte Werkbank
Das Erfurter Kreuz ist das größte Industriegebiet Thüringens. Hier brummt die Wirtschaft, Spitzengehälter werden aber weiterhin woanders verdient.
Erfurter Kreuz taz | Ein frischer Herbstwind bläst über die riesige Freifläche zwischen Arnstadt und der nächsten Gemeinde, Amt Wachsenburg. Vor wenigen Jahren noch wogte hier der Weizen. Nun schieben Bagger Erde vor sich her. Direkt nebenan wachsen neue Produktionshallen in die Höhe.
Fast zwei Milliarden Euro investiert [1][der chinesische Fahrzeugbatteriehersteller CATL am Erfurter Kreuz], Thüringens größtem Industriegebiet. Im kommenden Jahr soll die Produktion anlaufen, bis zu 2.000 neue Arbeitsplätze werden entstehen.
Doch CATL ist nicht der einzige Bauherr im Industriegebiet. Ein Betonfertigteilwerk entsteht, ein Möbellogistiker baut, nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt feierte kürzlich ein Unternehmen Richtfest, das plastikfreie Lebensmittel- und Medikamentenverpackungen produzieren wird. Weitere Flächen werden gerade erschlossen. Fast 500 Hektar wird das Industriegebiet in naher Zukunft groß sein.
Die Standortwahl trafen die Unternehmer nicht zufällig: Das Erfurter Kreuz liegt mitten in Deutschland. Zwei Autobahnen führen hier vorbei, es gibt eine Bahnanbindung und Behörden, die Investoren ein Rundum-Wohlfühl-Paket anbieten. Dazu gehört es, sie mit Fördermittelgebern zusammenzubringen und ihnen viele Dinge abzunehmen, die ein Bauvorhaben sonst in die Länge ziehen.
Mitmachen müssen aber auch die Kommunen, die mit Blick auf die wachsende Arbeitnehmerschar Bauland zur Verfügung stellen sowie Wohnraum und Kinderbetreuungsmöglichkeiten schaffen müssen. Die Agentur für Arbeit bietet zudem maßgeschneiderte Umschulungsprogramme für die künftigen Mitarbeiter an, sodass lange Einarbeitungszeiten entfallen.
Mittlerweile brummt die Wirtschaft am Erfurter Kreuz, die Industrieumsatzzahlen wachsen auf Rekordhöhen, [2][auch wenn es schon heftige Krisen gab.] So zogen sich gleich mehrere Anbieter aus der Solarbranche zurück, Hunderte Jobs entfielen. Lange arbeitslos blieben die Betroffenen indes nicht. Denn die meisten von ihnen sind gut ausgebildet. Maschinen- und Anlagenführer, CNC-Fräser, Elektriker, Handwerker aller Art – um solche Fachkräfte wird geworben.
In der Lohntüte machen sich die Erfolge aber nur bedingt bemerkbar. Dass Thüringen im Jahr 30 nach der Wende noch immer als Billiglohnland gilt, [3][stößt den Menschen bitter auf]. Es geht nicht nur um ein paar Euro, die man im Westen mehr verdient: Der Gehaltsatlas 2019 weist für Thüringen einen Durchschnittslohn von 36.450 Euro aus, das sind nur 81 Prozent des deutschen Durchschnittslohns. Im benachbarten Hessen liegt der Jahresdurchschnitt bei 51.345 Euro. Auch deshalb verlassen heute noch junge Menschen ihre Heimat, um im Westen ihr Geld zu verdienen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Löhne vor allem deshalb unterdurchschnittlich sind, weil es an Angeboten für Spitzenverdiener mangelt. Viele der Firmen am Erfurter Kreuz sind Filialen, die Hauptsitze der Unternehmen liegen in Westdeutschland oder im Ausland. Und dort befinden sich auch die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, in denen hoch bezahlte Ingenieure arbeiten.
Im Ilm-Kreis steht mit dem Erfurter Kreuz stattdessen die „verlängerte Werkbank“. Hier wird produziert, es werden Rekordumsätze erwirtschaftet, aber eben keine Spitzengehälter verdient.
Das zu ändern, ist ein langer Prozess. Immerhin: Die beiden Kommunen, auf deren Gemarkung das Industriegebiet liegt, der Landkreis und der Freistaat Thüringen agieren mittlerweile gemeinsam, setzen alles daran, auch Forschung und Entwicklung am Erfurter Kreuz zu etablieren.
Mit CATL gelang dies: Das Fraunhofer Institut eröffnete erst vor wenigen Wochen ein Batterie-Innovations- und Technologie-Center. Wichtigste Kunden sind derzeit die Chinesen, die mit Fraunhoferscher Hilfe ihre Produktionsprozesse optimieren wollen. Perspektivisch soll auch ein sogenanntes Transferzentrum entstehen: Wirtschaft und Forschungseinrichtungen arbeiten dann an gemeinsamen Projekten, so der Plan.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieses im Bereich der Automobilzuliefererbranche angesiedelt sein. Geht der Plan auf, haben Ingenieure, die im nur wenige Kilometer entfernten Ilmenau ausgebildet werden, keinen Grund mehr abzuwandern: Sie finden dann direkt vor der Haustür eine berufliche Perspektive.
Noch ist das, worüber Politik und Wirtschaft in Expertenrunden diskutieren, für die Bürger kaum greifbar. Transferzentrum – das ist ein hochtrabendes Wort. Erst wenn dieses Zentrum die Arbeit aufgenommen haben wird, wird es auch von der breiten Masse wahrgenommen werden.
Was die Menschen bewegt, ist noch immer der Blick in den Geldbeutel. Ganz so leer wie vor etlichen Jahren ist dieser nicht mehr. Was auch daran liegt, dass das Selbstbewusstsein der Bewerber deutlich gestiegen ist. Es gibt keinen Grund mehr, den nächstbesten Job anzunehmen, nur um eine Arbeit zu haben.
Das spüren auch die Arbeitgeber, die inzwischen mehr bieten müssen als den Mindestlohn. Extras wie Jobtickets, Unterstützung bei der Kinderbetreuung, Sportprogramme und vieles mehr sind inzwischen Standard. Denn anders lassen sich vakante Stellen kaum mehr nachbesetzen. Das spüren vor allem die vielen Logistiker, die sich angesiedelt haben. Bei ihnen arbeiten viele Ungelernte, klassische Geringverdiener also, die noch dazu häufig in Schichten oder an Wochenenden beschäftigt sind. Stimmt hier das Umfeld nicht, sind die Beschäftigten schnell wieder weg.
Also investieren die Firmenchefs – in ein nettes Arbeitsklima, aber auch in Löhne und Gehälter. Denn mit Niedriglöhnen sind auf Dauer keine Umsatzrekorde zu erzielen. Diese Erkenntnis ist 30 Jahre nach der Wende am Erfurter Kreuz allgegenwärtig.
3 Oct 2020
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Susanne Hennig-Wellsow hat in Thüringen Chefinnenpotenzial bewiesen. Mit ihrer Kandidatur für den Linken-Vorsitz setzt sie viel aufs Spiel. Ein Porträt.
Forschungseinrichtungen drängen in die Ballungszentren. Vor allem die öffentlichen Wissenschaftsprojekte meiden das Land.
Der weltgrößte Fahrzeugmarkt steckt in einem tiefen Abschwung. Umso kräftiger drückt die Führung in Peking bei der Elektromobilität auf's Gas.