taz.de -- Arrest für Journalisten in Belarus: Dem Gewissen gefolgt

Ein hochrangiger Journalist beim staatlichen Fernsehen kündigt. Er wird bestraft. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 4.
Bild: Dmitri Semschenko wurde verhaftet, wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration

Julia Semschenko ist die Frau des ehemaligen Chefs des Journalistenpools beim staatlichen Fernsehsender ONT. Nach der Präsidentenwahl reichte ihr Mann seine Kündigung ein. Einen Monat später wurde er wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Protestaktion zu 15 Tagen Arrest verurteilt. Dabei hatte er zum damaligen Zeitpunkt noch seine Arbeit als Journalist getan. Vor einigen Tagen klopften vier Männer in Zivil an die Wohnungstür der Semschenkos. Drei davon trugen medizinische Masken, nur einer hatte ein amtliches Schreiben dabei.

„Die Miliz kam am späten Nachmittag, gegen 17 Uhr“, erinnert sich Julia. „Mein Mann und ich sowie unser kleiner Sohn waren zu Hause. Als wir sahen, dass Unbekannte gekommen waren, wurden wir unruhig. Das Kind verstand überhaupt, was los war. Die Männer verhielten sich korrekt, der Mann ohne Maske sagte: Haben Sie keine Angst, alles ist gut. Dmitri muss mit uns zur örtlichen Abteilung für Inneres kommen.“

Dmitri habe dann darum gebeten, dort erst am nächsten Tag zu erscheinen. Doch der Mann sei hart geblieben. Ihr Mann habe ein wenig Zeit bekommen, um sich fertig zu machen. Dann habe Dmitri gefragt: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ Das bejahten die Männer und merkten an, dass sie sich genau aus diesem Grund zivilisiert verhielten. In Julias Blick habe die Frage gestanden: Es ginge wohl auch anders? Der Mann fasste zusammen: Es gebe da unterschiedliche Situationen.

Die Semschenkos hatten das alles kommen sehen. Schon eine Woche zuvor hatten bekannte leitende Redakteure des staatlichen Fernsehsenders zehntägige Arreststrafen erhalten – wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung oder der Durchführung von Massenaktionen.

„Wie waren moralisch darauf vorbereitet“, sagt Julia. „Erst um zehn Uhr abends habe ich an diesem Tag erfahren, dass mein Mann im Untersuchungsgefängnis war. Am nächsten Tag fand die Gerichtsverhandlung statt – per Video.“ (Gefangene werden wegen Corona nicht mehr ins Gericht gebracht.) „Er bekam 15 Tage – das Maximum, das möglich ist.“

Dieser Sommer sei sowohl für das belarussische Volk als auch für ihre eigene Familie schwer gewesen. „Ich habe doch gesehen, wie schwer Dmitri seine Arbeit während der Wahl gefallen ist. Er hatte da schon aufgehört, gemeinsame Berührungspunkte zu finden. Ich habe [1][meine Position] gegen die Staatsmacht aktiv zum Ausdruck gebracht, er arbeitete noch im Pool. Konflikte hatten wir deswegen nicht“, sagt Julia.

„Wir haben viel über [2][die Situation im Land] gesprochen. Wir haben mit dem Herzen und mit dem Kopf gedacht. Seine Entscheidung zu kündigen war nicht spontan. Er hat gesagt: Wenn der entscheidende Moment kommt, folge ich meinem Gewissen. Die Ereignisse nach der Wahl waren der letzte Tropfen. Er hat mir gegenüber sein Versprechen eingelöst. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

Aus dem Russischen [3][Barbara Oertel]

14 Sep 2020

LINKS

[1] /Staatssymbole-in-Belarus/!5713773
[2] /Weibliche-Oppositionelle-in-Belarus/!5713585
[3] /Barbara-Oertel/!a1/

AUTOREN

Olga Deksnis

TAGS

Kolumne Notizen aus Belarus
Belarus
Alexander Lukaschenko
Protest
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus
Kolumne Notizen aus Belarus

ARTIKEL ZUM THEMA

Sexismus in Belarus: Bleib zu Hause!

Politik? Auf keinen Fall! Frauen sollen lieber eine Familie gründen. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 12.

Zeichnen in Belarus: Protest in weiß-rot

Eine Minskerin hat 14 Skizzen entworfen – ihr Beitrag zu einem neuen Belarus. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 10.

Malerarbeiten in Belarus: Protest mit dem Pinsel

Bänke werden weiß-rot gestrichen – in den Farben der Opposition. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 9.

Protestorganisation in Belarus: Zur Demo im Schichtsystem

Eine Frau demonstriert, ihr Mann hütet die Katze. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 6.

IT-Protest in Belarus: Cyber-Partisanen greifen an

Computerfachleute stellen sich gegen Lukaschenko und werden dabei kreativ. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 5.

Besuch beim belarussischem Radiosender: Gleich hinter der Grenze

Zensur und Gleichschaltung der Medien in Belarus können dem Sender Radio Racja nichts anhaben. Denn der sendet vom polnischen Staatsgebiet aus.

Anders grüßen in Belarus: „Passen Sie auf sich auf!“

Die Belarussen ändern Sprache und Verhalten. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 3.

Staatssymbole in Belarus: Die „falsche“ Flagge

Das Weiß-Rot-Weiß der Opposition ist nicht erlaubt. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 2.

Weibliche Oppositionelle in Belarus: Unglaubliche Frauen

Eine 96-Jährige schreit Lukaschenko an. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 1.