taz.de -- Kräuterwanderung im Schwarzwald: „Jedes Kräutchen ein Weltwunder“

Bei Kräuterwanderungen entdeck man viel, was heilt und schmeckt. Selbst auf abgemähten Wiesen. Ein Besuch bei Rita Hasenkopf.
Bild: Rita Hasenkopf holt den Melissenlikör aus dem Keller

Die Kräuterfrau steht vor ihrem Haus im Hochschwarzwald und die Landschaft um sie ist unspektakulär. Wer Natur nur aus dem Katalog kennt, sieht hier kaum mehr als Wiesen, Bäume, Zäune, abgemähte Äcker, eine Kuh oder zwei. Darüber blauer Himmel.

Nur ist es immer eine Frage des Sehens, und Rita Hasenkopf, die Kräuterfrau, macht klar: Da ist eine Vielfalt im Kleinen um sie herum. „Jedes Kräutchen ein Weltwunder.“ Sie zeigt, wie um es zu beweisen, auf Klee am Wegrand. Weißklee, Rotklee, sagt sie, beide seien okay in der Suppe und nicht schlecht im Salat. Blutreinigend, verdauungsfördernd, „außerdem ein Kraut, das man jahraus, jahrein als Tee trinken kann“. Aber ach, Klee gelte, solange er nicht vierblättrig ist, doch nur als Futterpflanze. Darauf trampelten Leute halt rum.

Rita Hasenkopf bietet Kräuterwanderungen an, und wer sie finden will, muss den Hochschwarzwälder Hirtenpfad rund um das Dorf Raitenbuch entlangwandern und dann auf halber Strecke den Hinweis auf dem ausgebleichten DIN-A4-Blatt ernst nehmen, das an einem Baum hängt. Der Hirtenpfad heißt so, weil auf Tafeln über die noch bis in die 1940er Jahre übliche [1][Kinderarbeit] informiert wird. Acht- bis zehnjährige Bauernsöhne mussten sich als Hirtenjungen verdingen. Ihr Lohn nach einem Jahr: ein paar Schuhe. Günstigstenfalls.

Anstatt dem roten Pfeil des Hirtenpfades weiter zu folgen, geht es den anderen Weg hoch zu einem frei stehenden Haus. Dort wohnt Rita Hasenkopf seit 35 Jahren. Es ist das Elternhaus ihres Mannes, sie nennt ihn „mi Ma“. Früher lebten hier drei Generationen, jetzt noch sie und er, dazu eine Kuh, ein einjähriges Kalb und zwei zweijährige Kälber, Zwillinge, was selten ist.

Das Wilde pflegen

Tritt Hasenkopf aus der Haustür, steht sie direkt vor einer Wildblumenwiese. Es blüht wie verrückt, viel Blau und Violett, etwas weniger Gelb, ein paar rote Mohnblumen, weißblühende Schafgarben und Margeriten sind dazwischen. Tags zuvor habe sie auf der Wiese einen Schwalbenschwanz gesehen – ein extrem selten gewordener Schmetterling. „Er saß da, als ob er mir sagen will: ‚Siehst du, wie schön ich bin.‘“

Hasenkopf hat die Wildblumenwiese angelegt. Leicht sei das nicht, sie so üppig zum Blühen zu bringen. „Man muss den Boden vorher umlegen“, sagt sie und meint: Umstechen und die Grassoden verkehrt herum wieder dahin legen, wo sie vorher waren.

Ob die Kräuterwanderung durch den Wald gehen soll oder lieber über die Wiesen, fragt Hasenkopf und geht schon über eine Wiese neben ihrem Wildblumenbeet. Lieber in den Wald, sagen wir, weil die Wiesen abgemäht sind und wir annehmen, dass es da nichts mehr gibt. Hasenkopf widerspricht, „da ist sehr viel“. Sie bückt sich, reißt, wie um es zu beweisen, einen Stängel Bärwurz raus, feingliedrig, mit faserschopfartigen Trieben und Blättern, die wie gestrichelt erscheinen, zerreibt ihn zwischen den Fingern, ein Duft von Petersilie und Fenchel steigt auf.

Bärwurz wächst überall, auf den Wiesen, an Straßenrändern, zwischen Bäumen. „Ich mache ihn an alles“, sagt Hasenkopf, an Quark, Suppen, Gemüsepfannen. Kleingemörsert und mit Salz gemischt sei er lecker. Dazu noch gut gegen Blähungen. „Aus den Wurzeln macht man Schnaps“, der helfe der Verdauung. Das Kraut wächst allerdings erst ab 800 Meter Höhe. Damit ist es für viele unerreichbar.

Am Wegrand

Aber so eine Wiese bietet auch denen etwas, die nicht im Mittelgebirge wohnen. Schafgarbe, Löwenzahn, Brennnessel, Giersch – alles kann in Spinat und Suppen getan werden, das wissen mittlerweile viele. Dass die Samen des überall vorkommenden Spitzwegerich aber nussig schmecken, geröstet werden können und ohnehin wie Flohsamen die Verdauung fördern, das ist schon selteneres Wissen. Rita Hasenkopf fordert uns auf, die Samen zu probieren und es ist, wie sie sagt: im Mund zwar spelzig, aber als lutsche man zwischen dem Spelzigen an Haselnüssen.

Hasenkopf geht weiter über die abgemähte Wiese, zeigt niedrigen Feldthymian, der teppichartig wächst, dunkelrosa blüht und eine wohlschmeckende Würze hat. Zeigt auf Kletten am Wegrand, deren Mark aus den Stängeln ein süßliches Gemüse abgibt. Zeigt Wiesenknopf, Beinwell, Heidekraut, „das nehme ich bei Blasenentzündung“, zeigt Salbei-Gamander, Mädesüß, zeigt Melisse, „die beruhigt“, zeigt Frauenmantel, „der Wassertropfen, der sich im Blatt sammelt, macht die Haut ganz weich“, zeigt Weißdorn, „da hab ich auch einen Likör draus gemacht“. Sie zeigt und zeigt und längst vermischen sich Farben und Formen. „Man muss mit einem anfangen“, sagt sie. Daran haben wir uns nicht gehalten.

Rita Hasenkopf erkundet schon jahrelang, was in jeder Pflanze steckt. Ihre Schwiegermutter habe ihr anfangs einiges gezeigt, das, was ohne große Kochkunst essbar ist, das, was schnell hilft. Zerriebene Spitzwegerichblätter gegen Mückenstiche, Melisse zum Einschlafen – das Unmittelbare eben.

Das Mittelbare aber, das, wo man Fantasie entwickeln muss, um zu verstehen, wo man rumexperimentieren muss, das hat Hasenkopf sich über all die Jahre angeeignet. Einmal im Monat trifft sie sich mit anderen kräuterkundigen Frauen aus dem Schwarzwald. Sie tauschen sich aus, lernen voneinander, experimentieren mit Pasten, Salben, Likören und Essenzen, wohl wissend, dass sie der Pharmaindustrie ein Dorn im Auge sind. „Früher wurden die Hexen verbrannt, heute wird unser Wissen durch Vorschriften klein gehalten.“

Mitunter kommt in Sachen Kräuter auch Magie ins Spiel. Denn nicht nur, sagt Rita Hasenkopf, wachse in der Erde, was die Erde gerade brauche, der entgiftende Nelkenwurz, der nach Nelke schmeckt, etwa dort, wo der Boden kontaminiert sei, „aber Vorsicht damit“, nein, es sei noch viel großartiger: Manchmal komme die Natur auch direkt zum Menschen. Zu ihr ist das Herzgespann gekommen, ist plötzlich im Garten gewachsen, als es ihr nicht so gut ging, als sie Herzschmerzen hatte, Erschöpfung, fast einen Burn-out. Es ist seitdem ihr Lieblingskraut. Schon das Aussehen einer Pflanze zeige manchmal, wofür sie gut ist, meint Hasenkopf. „Man muss sich nur die Früchte vom Herzgespann anschauen, so stachlig, so rühr-mich-nicht-an.“ Sie hat sich einen Wein daraus gemacht, der sie beruhigt.

Überhaupt Alkoholisches. Wenn die Arzneimittelbehörde schon nicht erlaubt, dass die Salben, Tinkturen und sonstigen Zaubergetränke der Kräuterfrauen vermarktet werden können, kann sie Gastfreundschaft aber nicht verbieten. Deshalb gibt es zum Abschied ein Glas Brause aus Fichtennadelsirup, der helfe den Abwehrkräften, und einen Zitronenmelissenlikör dazu. „Der stärkt die Lebensfreude“, sagt die Kräuterfrau.

6 Sep 2020

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AUTOREN

Waltraud Schwab

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