taz.de -- Antijudaistisches Kirchenrelief in Calbe: Diskret verhüllt
Viele deutsche Kirchen tragen antisemitische Reliefs. Auch an der Kirche in Calbe ist eine sogenannte „Judensau“ zu sehen. Wie soll man damit umgehen?
Calbe taz | Der Rat der Stephani-Kirchgemeinde in Calbe wollte sie nicht mehr haben, doch die Denkmalschutzbehörde in Staßfurt bestand darauf, die Statue wieder an der Kirche anzubringen: Und so hing die antisemitische Figur einer sogenannten „Judensau“ am 15. Juni plötzlich wieder am Kirchpfeiler, ohne dass die Gemeinde nochmals informiert wurde.
Der Fall im 35 km südlich von Magdeburg gelegenen Calbe erinnert an den Streit um ein ähnliches Relief an der Stadtkirche Wittenberg, der noch [1][vor dem Bundesgerichtshof anhängig ist]. An etwa 30 Kirchen in Deutschland finden sich solche beleidigenden Darstellungen.
Aus Sicht von Gemeindepfarrer Kohtz stellt die Stephani-Kirche in Calbe insofern einen Sonderfall dar, als alle Chimären für die Restaurierung zwischendurch bereits abgenommen waren. Man hätte also die sogenannte „Judensau“ einfach nicht wieder anbringen oder gleich an Ort und Stelle verwittern lassen können. „Es geht nicht darum, Geschichte zu leugnen und Bilderstürmerei zu betreiben“, betont der Pfarrer aber.
Die Plastik in Calbe ist eine von 14 unechten Wasserspeiern unterhalb des Dachsimses, den so genannten Chimären. Sie stellen allgemein menschliche Verwerflichkeiten dar, darunter eine weibliche Satansfigur und einen „hinterhältigen Modenarren“. Die antisemitische Szene aus dem 15.Jahrhundert ist besonders perfide, weil ein Jude einer Sau das Hinterteil küsst. Die Plastik sei „ein Schandmal und eine exorbitante Beleidigung“, sagt Pfarrer Kohtz.
Er findet, es müsse mehr über Antisemitismus gesprochen werden, viele Einwohner von Calbe hätten jahrzehntelang nichts von der sogenannten „Judensau“ gewusst.
Wie mit der Plastik umgehen?
Zwar ist die Plastik nun wieder an der Kirche angebracht, es ist aber doch nicht alles wie vor Beginn der Sanierung. Kompromissweise wird die Figur inzwischen verhüllt. Nicht mit edlen Stoffen wie beim [2][Aktionskünstler Christo], sondern grob und mit Panzerband umwickelt.
In der Landeskirche begrüßt man den zwischen Denkmalschutz und Gemeinde gefundenen Verhüllungskompromiss. Oberkirchenrat Christian Fuhrmann, Gemeindedezernent der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland sagt: „Weder kann es darum gehen, judenfeindliche Kunstwerke unreflektiert weiter zu tradieren, noch kann es das Ziel sein, sie verschämt vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen.“
Pfarrer Jürgen Kohtz ist aber spürbar unzufrieden mit der verhüllten Statue. Die Verhüllung mache erst recht auf die Plastik aufmerksam, wenn die Baugerüste fallen werden, glaubt er.
Von einer angemessenen Form des Umgang mit solchen Zeitzeugen hat der Pfarrer jedoch eigene Vorstellungen. Sie entsprechen dem, was er seit Jahrenin der Stephani-Kirche praktiziert. An Wänden und Pfeilern der imposanten, aber karg ausgestatteten Kirche kann man Texte aus allen Religionen lesen. Nun schwebt dem Pfarrer eine kommentierende Ausstellung zu jüdischem Leben und zur „Judensau“ im großen Turmzimmer zwischen den 57 Meter hohen Doppeltürmen vor, sozusagen auf Höhe der Skulptur. Mit der Denkmalbehörde soll noch einmal gesprochen werden, ob die Plastik dann in diesem Raum platziert werden kann.
24 Jun 2020
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Der Bundesgerichtshof beschäftigt sich mit einer antisemitischen Plastik in Wittenberg: Reicht Kontextualisierung, um sie dort zu lassen?
Die Meldestelle RIAS hat erstmals Zahlen zu antisemitischen Vorfällen veröffentlicht. Für das Jahr 2019 zählt sie mehr als 1.200 Fälle.
Hakennasen, Schläfenlocken und das Bild vom „wuchernden Juden“: Im belgischen Aalst wird Karneval zum antisemitischen Spektakel.
Der Kläger im Verfahren um ein antisemitisches Relief in Wittenberg gibt nicht auf: In der taz kündigt er Revision vor dem Bundesgerichtshof an.