taz.de -- Untersuchungsausschuss nach Lügde-Fall: Zeugen wollen nicht aussagen
Im Prozess um sexuelle Übergriffe auf Kinder auf einem Campingplatz bei Lügde sind die Täter längst verurteilt. Aber es gibt noch viele offene Fragen.
Berlin taz | Wenn am Montag der Untersuchungsausschuss [1][zur „Causa Lügde“] im [2][Landtag von Nordrhein-Westfalen] erneut zusammenkommt, dürfte es interessant werden. Oder auch nicht. Denn die drei Zeuginnen, die das Gremium zum hundertfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde vernehmen will, verweigern die Aussage. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung. Die Zeugen lassen sich durch eine gemeinsame Anwältin vertreten, die dem Blatt zufolge den parlamentarischen Untersuchungsausschuss davon in Kenntnis gesetzt hat, dass ihre Mandant*innen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen würden. Rechtlich sei das legitim, wenn sich jemand durch eigenen Aussagen selbst belasten würde.
Befragt werden sollen laut Ausschussvorsitzendem Martin Börschel (SPD) drei frühere Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Hameln-Pyrmont. Das Jugendamt war unter anderem dafür zuständig, dass [3][Andreas V., einer der beiden Haupttäter] im sogenannten Lügde-Prozess trotz fragwürdiger Zustände in seiner Behausung auf dem Campingplatz nahe nordrhein-westfälischen Kleinstadt ein Pflegekind zugesprochen bekam.
Im Lügde-Prozess, der im vergangenen Sommer vor dem Landgericht Detmold verhandelt wurde, sind die beiden [4][Hauptangklagten Andreas V. und Mario S. zu 13 beziehungsweise 12 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung] verurteilt worden. Damit ist die juristische Seite des Verfahrens beendet. Trotzdem bleiben Fragen: Wie kann es sein, dass ein Mann, der von manchen Campingplatzgästen zwar als „kinderlieb und freundlich“ beschrieben wurde, aber bei genauerer Betrachtung keinerlei pädagogische Fertigkeiten aufweist, ein Kind in Obhut nehmen konnte? In einen zugemüllten, dreckigen Campingwagen?
„Für Süßigkeiten macht sie alles“
Ungeachtet dessen hatten Eltern schon früher beobachtet und gemeldet, dass Andreas V. sich Kindern gegenüber sexuell geäußert und sie beim Spielen, beispielsweise beim Heben auf seine Schultern, an deren Genitalien berührt habe. Der Verdacht, Andreas V. sei pädosexuell, stand also schon schon länger im Raum. Einer Mitarbeiterin des Jobcenters gegenüber hat V. sogar offene Andeutungen gemacht, dass er seiner Pflegetochter sexuelle Gewalt antut. Er soll Sätze gesagt haben wie „Für Süßigkeiten macht sie alles.“ Die Mitarbeiterin hatte das zuständigen Behörden gemeldet, sei aber nicht gehört worden, hatte sie im Unterausschuss ausgesagt.
[5][Beim Behördenversagen,] das im Zuge des Prozesses sowohl Polizei als auch Jugendämtern vorgeworfen wurde, spielt das Jugendamt Hameln-Pyrmont eine weitere unrühmliche Rolle. Eine Mitarbeiterin hatte nach Bekanntwerden des Skandals Aktenvermerke gelöscht, die Hinweise auf die pädosexuelle Neigung von Andreas V. gaben. [6][Vermutlich wollte sie sich nicht selbst belasten] oder das Jugendamt grundsätzlich schützen. Solche Fragen soll unter anderem der Unterausschuss klären. Tjark Bartels, damals Landrat von Hameln-Pyrmont hatte die Mitarbeiterin gekündigt und eine umfassende Aufarbeitung des Falls angekündigt. Im Herbst 2019 hat er sich jedoch von seinem Amt zurückgezogen – wegen einen Burn-outs, wie er damals sagte. Und wegen der Anfeindungen, die er im Zuge der „Causa Lügde“ zu ertragen hatte.
24 May 2020
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Erneut am Pranger sieht sich Tjark Bartels, der Ex-Landrat von Hameln-Pyrmont. Er will seinen Burn-out als Dienstunfall werten lassen.
Scho wieder ein Fall sexueller Gewalt gegen Kinder, bei dem Jugendämter versagt haben. Es fehlen: systematische Schulung und behördliche Vernetzung.
In einer Gartenlaube in Münster wurden Kinder zum sexuellen Missbrauch angeboten. Die Polizei nimmt elf Tatverdächtige fest, Datenträger werden ausgewertet.
Jugendamtsmitarbeiter ignorierten wohl Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung. Jetzt verweigern sie die Aussage.
Im Prozess wegen hundertfachen Missbrauchs auf einem Campingplatz sagen die Opfer aus. Die Beschuldigten hatten ihre Taten zum Teil gefilmt.
Kripobeamte, die für den Lügde-Prozess Kinderpornos auswerten, sind psychisch stark beansprucht, sagt der Polizeipfarrer Bredt-Dehnen.
Missbrauch, Vergewaltigung, Produktion von Kinderpornos – was in Lügde geschah, ist kaum fassbar. Drei Angeklagte stehen nun vor Gericht.