taz.de -- Weitgehende Corona-Lockerungen: Deutschland nicht mehr ganz dicht

Viele Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie werden nun aufgehoben. Doch die Kanzlerin hat mit den Ländern einen „Notfallmechanismus“ vereinbart.
Bild: Noch kann sich das Paar in Timmendorf über die Ruhe freuen, damit ist es ab Pfingsten vorbei

Berlin taz | Angela Merkel gab sich diplomatisch. „Alles in allem haben wir eine sehr konstruktive Diskussion gehabt“, sagte die Kanzlerin am Mittwochnachmittag. Angesichts der föderalen Vielfalt sei es „nicht verwunderlich, dass es da durchaus auch unterschiedliche Akzente immer gibt“. So kann man es auch formulieren.

Tatsächlich hatte es zuvor in ihrer mehrstündigen Videokonferenz mit den Regierungschef:innen der Länder ziemlich gerappelt. Das Ringen um eine gemeinsame Linie war zäh. So dauerte es auch weitaus länger als geplant, bis Merkel in Berlin vor die Presse trat.

Nach den noch relativ vorsichtigen Lockerungsbeschlüssen vom 20. April hat sich nun die Kanzlerin mit den Ministerpräsident:innen auf sehr weitreichende Öffnungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland verständigt. Einzig Großveranstaltungen bleiben vorerst bis zum 31. August untersagt. So darf die 1. und 2. Fußballbundesliga der Männer zwar in der zweiten Maihälfte den Spielbetrieb wieder aufnehmen, allerdings nur vor leeren Rängen.

Bei allem anderen haben die Länder nunmehr weitgehend freie Hand – unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln. Und solange sich das Infektionsgeschehen nicht zu stark negativ verändert. „Wenn wir regionale Unterschiede haben, müssen wir einen Notfallmechanismus haben“, begründete das Merkel. „Wir müssen aufpassen, dass die Sache uns nicht entgleitet“, warnte sie. „Wir haben noch eine lange Auseinandersetzung mit dem Virus.“

„Notfallmechanismus“ vereinbart

So heißt es nun [1][in dem Bund-Länder-Beschluss]: „Ab einer gewissen Relevanz muss auf eine regionale Dynamik mit hohen Neuinfektionszahlen und schnellem Anstieg der Infektionsrate sofort vor Ort mit Beschränkungen reagiert werden.“

Konkret bedeutet das: Bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt innerhalb einer Woche müsse „sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden umgesetzt“ werden.

Betroffen wäre davon derzeit bundesweit nur der Landkreis Greiz in Thüringen und die bayrische Stadt Rosenheim. Wobei bei einem lokalisierten und klar eingrenzbaren Infektionsgeschehen, zum Beispiel in einem Alten- oder Pflegeheim, die verlangten Beschränkungen auch nur für diese eine Einrichtung gelten können.

Standards für Schulen und Kitas

Ansonsten haben Söder, Laschet & Co mit Merkel nicht mehr wie zuvor Lockerungsobergrenzen, sondern nur noch Öffnungsmindeststandards vereinbart. So heißt es, dass bis zu den Sommerferien schrittweise allen Schülerinnen und Schülern wieder der Schulbesuch ermöglicht werden soll. In welcher Geschwindigkeit und welcher Form das geschieht, wird dem Föderalismus überlassen: Die Einzelheiten regeln die Länder.

Bei der Kinderbetreuung verhält es sich ebenso. Es werde „eine flexible und stufenweise Erweiterung der Notbetreuung spätestens ab dem 11. Mai in allen Bundesländern eingeführt“, heißt es in der Bund-Länder-Vereinbarung. Ab dann soll die Notbetreuung also nicht mehr nur dem Nachwuchs von Eltern mit „systemrelevanten“ Berufen offenstehen, sondern auch unter anderem Kindern, die in beengten Wohnverhältnissen leben oder einen besonderen Förderbedarf haben. Außerdem soll sichergestellt werden, „dass bis zu den Sommerferien jedes Kind am Übergang zur Schule vor dem Ende seiner Kita-Zeit noch einmal die Kita besuchen kann“.

Für Krankenhäuser, Pflegeheime, Senioren- und Behinderteneinrichtungen haben Bund und Länder vereinbart, dass jeder Patientin oder jedem Bewohner einer solchen Einrichtung „die Möglichkeit des wiederkehrenden Besuchs durch eine definierte Person ermöglicht wird“ – unter der Voraussetzung, dass es dort kein aktives Infektionsgeschehen gibt. Besondere Schutzmaßnahmen sollen nach den jeweiligen lokalen Gegebenheiten unter Hinzuziehung externen Sachverstands ergriffen werden, wobei „entsprechende Regularien nicht zu einer vollständigen sozialen Isolation der Betroffenen führen dürfen“.

Länder können frei entscheiden

Eine längere Diskussion soll es nach Teilnehmer:innenangaben über die Lockerung der Kontaktbeschränkungen gegeben haben. Grundsätzlich sollen sie bis zum 5. Juni weiter gelten. Aber nunmehr werden auch Treffen „mit den Personen eines weiteren Hausstands“ gestattet.

Für Sachsen-Anhalt gilt diese Beschränkung nicht. Dort dürfen sich auch außerhalb des gleichen Hausstandes bis zu fünf statt zwei Personen treffen, weil das die dortige Landesregierung [2][schon in der vergangenen Woche so beschlossen] hat. Denn: „Bereits getroffene Entscheidungen bleiben unberührt.“

Geschäfte unterliegen jetzt nicht mehr einer Beschränkung ihrer Verkaufsfläche auf bis zu 800 Quadratmeter: „Alle Geschäfte können unter Auflagen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Vermeidung von Warteschlangen wieder öffnen.“

Keine gemeinsamen Festlegungen gibt es darüber, wann und wie Kneipen, Restaurants, Bars, Clubs, Diskotheken oder auch Kinos, Theater, Opern- und Konzerthäuser wieder öffnen können. Das würden die Länder „in eigener Verantwortung vor dem Hintergrund des jeweiligen Infektionsgeschehens und landesspezifischer Besonderheiten“ entscheiden.

Das gilt auch für die Öffnung von Volkshochschulen, Schwimmbädern, Fitnessstudios, Massagepraxen, Spielhallen oder Bordellen. Wie sich jetzt schon abzeichnet, wird die Folge ein bundesweiter Flickenteppich sein.

Nordrhein-Westfalen im Öffnungsfeeling

Noch am Mittwochnachmittag, kurz nach dem Auftritt Merkels, kündigte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet bereits an, in umfangreichen Maße von seiner neugewonnenen Freiheit Gebrauch zu machen. Ab nächsten Montag kehre im bevölkerungsreichsten Bundesland „das soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zurück“, kündigte er an.

In NRW dürfen dann die Restaurants wieder öffnen, auch Fitnessstudios, Tanzschulen und Freizeitparks. Erlaubt werden kleinere Konzerte und andere öffentliche Aufführungen unter freiem Himmel. Ausflugsschiffe dürfen ab diesem Zeitpunkt auch wieder über den Rhein schippern.

Die Freibäder können in NRW ab 20. Mai öffnen. Ab dem 30. Mai steht die Öffnung von Kinos, Theatern, Opern und Konzerthäusern an. Dann ist auch „die Ausübung von Sportarten auch mit unvermeidbarem Körperkontakt und in geschlossenen Räumen wieder gestattet“. Als einen „großen Schritt in die verantwortungsvolle Normalität“ lobte Laschet seinen [3][“Nordrhein-Westfalen-Plan“].

Noch ist das Öffnungsfeeling in den die meisten anderen Bundesländern nicht ganz so ausgeprägt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch sie Laschets Beispiel folgen werden – wenn denn nicht das Virus wieder zuschlägt.

Geschlossene Grenzen kein Thema

Auffällig ist, womit sich die Kanzlerin und die Länderchef:innen nicht befasst haben. Was immer sie auch wieder öffnen wollen, die Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands fehlen in der Aufzählung. Erstaunlicherweise findet sich in ihrer gemeinsamen Erklärung kein Wort darüber.

Dabei hatte erst am Wochenende der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf dem Länderrat der Grünen innereuropäische Grenzschließungen, wie sie derzeit die Bundesrepublik praktiziert, scharf kritisiert: „Wer denkt, nur um dem nationalen Publikum zu gefallen, es wäre jetzt angebracht, Binnengrenzen zu schließen, irrt sich fundamental“, empörte sich der als Gastredner geladene Juncker. Es sei grotesk, so zu tun, als ob Zollbeamt:innen das Virus stoppen könnten.

Weil sich die schwarz-gelbe Landesregierung Armin Laschets erfolgreich gegen eine Schließung gewehrt hat, sind derzeit nur in Nordrhein-Westfalen die Grenzen zu Belgien und den Niederlanden nach wie vor geöffnet – ohne dass ein negativer Einfluss auf das Infektionsgeschehen belegbar wäre.

Trotzdem hat Bundesinnenminister Horst Seehofer am Montag die an den Grenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und Italien vorübergehend wieder eingeführten Grenzkontrollen zunächst bis einschließlich 15. Mai 2020 verlängert. Was danach ist, ist unklar.

6 May 2020

LINKS

[1] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/973812/1750978/fc61b6eb1fc1d398d66cfea79b565129/2020-05-06-beschluss-mpk-data.pdf?download=1
[2] /-Corona-News-vom-2-Mai-/!5682683
[3] https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/ministerpraesident-armin-laschet-stellt-nordrhein-westfalen-plan-vor

AUTOREN

Pascal Beucker

TAGS

Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Angela Merkel
Pandemie
Armin Laschet
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schengen-Raum
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Macht
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Angela Merkel
Fußball-Bundesliga
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Corona Live-Ticker
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus

ARTIKEL ZUM THEMA

Neue Corona-Entwicklung: Mehr Kontakte, weniger Infektionen

Trotz Lockerungen sinken die Corona-Zahlen. Das Virus verbreitet sich wohl anders als gedacht: Gefährlich sind Innenräume und „Superspreader“.

Seehofers Entscheidung in Coronakrise: Deutschland lockert Grenzkontrollen

Ab Samstag wird an den Grenzen zu Frankreich, Österreich und der Schweiz nur noch vereinzelt kontrolliert. Bald sollen weitere Länder folgen.

Geschlossene Schlagbäume im Westen: Deutscher Grenzfetisch

Die Kontrollen wegen Corona zerreißen eng verflochtene Nachbarländer. Die Maßnahmen nützen niemandem und zerstören Vertrauen.

Lockerungen bei Corona-Maßnahmen: Hemdsärmelige Obergrenze

Mehr als fragwürdig: Der willkürlich festgelegte Grenzwert von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner ist eine gefährliche Beruhigungspille.

Corona-Lockerungen in Deutschland: Das Vertrauen schwindet

Wenn Regierungen Vorschriften erlassen, die sie gar nicht kontrollieren können, dann hat der Staat ein Problem.

Unmut gegen Coronamaßnahmen: Schaum vor der Maske

Die Coronabeschränkungen sind nicht immer durchdacht. Aber eine Diktatur ist nicht in Sicht – nur die Vernebelung des „gesunden Menschenverstands“.

Interview am Schlagbaum im Saarland: „Leidingen leidet“

Der Ortsvorsteher eines Grenzorts im Saarland ist sich mit seinem Ministerpräsidenten einig: Die Grenzen nach Frankreich sollten offen sein.

Wiedereröffnung der Gastronomie: Für Wirte wird's unwirtlich

Wegen ihres meist prekären Hintergrunds merken viele Gastwirte: Die Wiedereröffnung muss sitzen. Ein zweiter Lockdown wäre fatal für sie.

Prioritäten bei Corona-Lockerungen: Fußball vor Bildung

Die Fußball-Bundesliga darf wieder starten, für viele SchülerInnen ist die Perspektive weiter unklar – ein Lehrstück über Prioritäten in der Politik.

Elternwünsche in Coronazeiten: Selbst gemachtes Leid

Nach einer Umfrage in Niedersachsen kann sich die Hälfte der befragten Eltern nicht vorstellen, Kinder privat zu betreuen. Das ist fantasielos.

Ausweitung der Notbetreuung in Kitas: Kita-Eltern weiter unter Druck

Viele Eltern von Kita-Kindern sind am Limit. Jetzt prescht Niedersachsen mit seinen Wiederöffnungsplänen vor. Doch glücklich machen auch die nicht.

+++ Corona News vom 7. Mai +++: Rosenheimer Obergrenze hinfällig

Corona-Obergrenze in Rosenheim unterschritten. Kreis Greiz in Thüringen ist neuer Infektions-Hotspot. Die Nachrichten zum Coronavirus im Live-Ticker.

Berlin plant viele Lockerungen: Details sind noch zu klären

Mittwochabend hat der Senat Lockerungen angekündigt. Restaurants und Gaststätten öffnen wieder, bald auch Freibäder. Manchen reicht das noch nicht.

Corona in Hennigsdorfer Flüchtlingsheim: Ohne WLAN in der Quarantäne

Corona-Ausbruch in brandenburger Gemeinschaftsunterkunft: Bewohner eines Flüchtlingsheims fühlen sich ungeschützt, schlecht informiert und isoliert.

Konjunkturprognose der EU: Europa rutscht ungleich ins Minus

Wo die Pandemie hart zuschlägt, wird auch die Wirtschaft am stärksten getroffen, sagt die EU-Kommission. Europa steht erneut vor einer Zerreißprobe.