taz.de -- Folgen des Coronavirus: Deglobalisiert euch!
Das Ausbreiten des Coronavirus offenbart die Vorteile regionaler Märkte. Den Verflechtungen der Weltgesellschaft können wir aber nicht entkommen.
Offene Grenzen und weltumspannende Mobilität für Güter und Menschen schienen der beinharte Megatrend des 20. Jahrhunderts, in den Rang einer göttlichen Fügung oder eines Naturgesetzes gehoben, gegen die nur ein paar Irregeleitete aufstanden.
Das Coronavirus bestätigt den Glaubenssatz einer unaufhaltsamen globalen Vernetzung, da die Netze nun offensichtlich an vielen Stellen reißen und ebenjene Kettenreaktion stattfindet, die aus der allgemeinen Verbundenheit folgt. Läuft die Pandemie weiter, bleibt ein kleinteiliges „Rette sich, wer kann“, ohne dass man den Verflechtungen der Weltgesellschaft entkommen kann.
Im Fernsehen trat kürzlich ein gutbezahlter IT-Arbeiter auf, der seine Schreib- und Programmierarbeiten gutgelaunt „von zu Hause“ – aus dem berühmten Home-Office – ausführt, weil er nicht mehr die Wohnung verlassen darf. Das war vermutlich merkwürdig anzuschauen für alle, die weiterhin Dinge herstellen, Menschen versorgen, Alte und Kranke pflegen, Kunden bedienen, Züge bewegen und so weiter, also all jene Dinge bereitstellen, die vom anderen Megatrend Digitalisierung noch nicht ersetzt werden konnten. Im Quarantänefall kann man eine Zeit lang noch bei Amazon bestellen, aber es wird irgendwann weder hergestellt noch aus- und nachgeliefert werden. Auch mit schnellem Internet sitzt man auf gehamsterten Vorräten.
Zur Herkunft dieses Virus passt der angeblich aus China stammende Spruch: Jede Krise enthält auch eine Chance. Die Folgen, die vermutlich die Ärmsten am stärksten zu spüren bekommen werden, sollen damit nicht verharmlost werden. Nur kann ich mich des Gedankens nicht enthalten, dass ein schlichtes Zurück zum business as usual weder möglich noch wünschenswert wäre. Die Globalisierung ist eindeutig zu weit gedreht worden, ihre Schattenseiten sind viel zu offensichtlich. Diese schließen Sklaven- und Zwangsarbeit ein, haben ruinöse Folgen für die Umwelt und bringen eine skandalöse Entwertung menschlicher Arbeit und Fähigkeiten mit sich.
Stunde der Populisten
Das ist die Stunde der Populisten von rechts und links, die nach dem Motto, man müsse jetzt „nur“ zurück zum nationalen Handelsstaat, Patentrezepte anbieten. Aber das würde die Weltwirtschaft erst recht entgleisen lassen. Das Gros der Handelsverträge ist nicht zu kritisieren, weil sie zu viel Freihandel bieten, sondern weil sie besonders im Nord-Süd-Verhältnis zu wenig freien Handel zulassen mit unfairen Bedingungen vor allem für kleine Produzenten.
Und natürlich sind unter ökologischen Gesichtspunkten die Dumpingpreise des internationalen Container- und Lkw-Transportwesens ein Skandal – unabhängig davon, dass dieser wegen des Virus gerade erlahmt. Was tun? Die Regionalisierung der Märkte wäre ein wichtiger Baustein zu einer rationalen und schrittweisen Deglobalisierung. Wer arbeits- und sozialpolitische, gesundheitliche und ökologische Kosten zusammenzählt oder in die Bilanz einrechnet, erkennt die immensen Kosten und Kollateralschäden einer aus dem Ruder gelaufenen Globalisierung.
Deren behutsamer Rückbau hat dabei leider einen ekligen Bündnispartner: die völkisch-autoritären Nationalisten, die in den USA und Großbritannien gerade demonstriert haben, welchen Schaden wirtschaftlicher Protektionismus anrichten kann, und diesen, wenn er ruchbar wird, mit noch mehr ethnischem Protektionismus und Rassismus überdecken.
Außerdem greifen die Nationalisten die unabhängigen Medien und die seriöse Wissenschaft an und torpedieren damit eine nüchterne und notwendige Kosten-Nutzen- und Risikoabwägung, wie sich gerade an den ausufernden Corona-Panikwellen in den sozialen Medien zeigt. Den Verlust an Orientierung, den sie selbst mit verursacht haben, wollen sie dann durch verschärften Autoritarismus nach chinesischem Vorbild wettmachen.
So fällt auf, in welchem Lager schon immer die schärfsten „Globalisierungskritiker“ saßen – und wie fatal die Bündnisse sind, die Linke mit ihnen eingegangen sind. Deglobalisierung heißt nicht rückwärtsgewandt, sondern Verbesserung: das Versprechen der Einen Welt endlich einlösend. Es ist fatal, wie gefühlt halb Deutschland gerade auf das Niveau der AfD herabsinkt, die an der Außengrenze den Schießbefehl für angebracht hielt – ein Niveau, das in der Panik eines „neuen 2015“ Bundeskanzlerin Angela Merkel hoffentlich nicht hinzunehmen bereit ist.
Nachdem die Verächter offener Grenzen mit ihrer xenophoben Panik die Versagung solidarischer Hilfe erzwungen hatten, soll nun Europa ganz zur Festung ausgebaut werden – ein Kontinent, der zuletzt jeden 27. Januar, den Holocaust-Gedenktag, rituell daran erinnert hat, dass die Versagung von Hilfe für Verfolgte „nie wieder“ geschehen dürfe.
Es geschieht nur gerade, und da darf man den Protektionisten keinen Fuß breit nachgeben und sich von der massiven Denunziation offener Grenzen als angebliche kolossale Naivität nicht dumm machen lassen. Vernünftige Parteien und kundige Nichtregierungsorganisationen, aber auch die sozialen und ökologischen Protestbewegungen der letzten Monate müssen, wo sich die Nationalstaaten verweigern, selbst städtische Netzwerke aktivieren, die sich zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären und Druck auf die Behörden ausüben, damit sie diesen Initiativen von unten keinen Riegel vorschieben.
In einer Lage, in der die Globalisierung einem enormen Stresstest ausgesetzt ist, in dem selbst Giganten wie Amazon und Apple in die Knie gehen könnten, kann sich eine alternative Weltoffenheit herauskristallisieren, die internationale Vernetzung nicht als Fluch, sondern als Mittel erneuerter Mitmenschlichkeit ansieht.
Und die aus dem häufig zu hörenden Befund zum Corionavirus, dass die Natur zurückschlage, den Schluss zieht, dass auch eine alternative Globalisierung im Anthropozän vor allem Demut und Gastfreundschaft als Maxime haben sollte.
6 Mar 2020
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
In der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ist man sich über den Freihandel uneins. Argentinien kehrt vorerst an den Verhandlungstisch zurück.
Die Rechtspopulisten haben ein Problem: Seit Corona stehen sie nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Fabriken stehen still, Lieferketten sind unterbrochen – die Globalisierung beenden wird das Coronavirus aber nicht.
Wegen der Ansteckungsgefahr durch das Virus arbeiten plötzlich viele von zu Hause aus. Das hat nicht nur Vorteile – gerade für Frauen.
CDU, Corona, Klimawandel: In Krisen stilisieren wir Menschen zu heldenhaften Figuren, sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.
Unser Autor kam mit Schnupfen aus dem Italien-Urlaub zurück. Eigentlich wollte er sich auf Corona testen lassen – aber das war gar nicht so einfach.
Unter der Corona-Ausbreitung ächzen die Börse und die Tourismusbranche. Die Olympischen Spiele in Tokio werden aber vorerst nicht abgesagt. Eine Übersicht.
Wegen Hamsterkäufen in den Supermärkten zieht der Absatz von Konserven und haltbaren Lebensmitteln an – bei Fertigsuppen um 112 Prozent.
Indien ergreift im Kampf gegen Corona drastische Maßnahmen: Grundstoffe sollen im Land bleiben, um Medikamentenmangel vorzubeugen.
Chen Wei ist Virologin und Ärztin der chinesischen Armee. Nun soll sie vor einem Durchbruch im Kampf gegen das Corona-Virus stehen.