taz.de -- Klimawandel und Gesellschaft: Die falsche Logik der Mitte

Technologie ist oft der Beginn einer neuen Art zu arbeiten und zu denken. Und die Klimakrise könnte eine große Chance werden.
Bild: Die Klimakrise könnte eine Chance sein, darüber nachzudenken, wie wir leben wollen

Wie geht Veränderung? Der Druck ist gerade groß, von allen Seiten, die Angst ist es damit auch: Der Status quo, politisch und wirtschaftlich, gilt selbst progressiven Menschen mittlerweile als besonders schützenswert. Systemwandel heißt das Schreckenswort, Alternativen sind aus der Mode.

Das ist verständlich – und falsch. Verständlich, weil rechte Hetzer, digitale Fliehkräfte, die menschengemachte [1][Klimakatastrophe] tatsächlich eine Art umfassend bedrohliches oder sogar barbarisches Gefühl erzeugen; und falsch, weil dieses umfassend barbarische Gefühl nur die Hirne vernebelt und gesellschaftliche und politische Regression befördert.

Wer Veränderungen vor allem unter der Prämisse der Bedrohung und der Barbaren sieht, verkennt die Notwendigkeit genau dieser Veränderungen, gerade um den Bedrohungen zu begegnen – und die Barbaren, wenn man sie so nennen will, erfüllen damit letztlich den Zweck, das System zu stabilisieren.

Es ist ein Grundwiderspruch unserer Zeit: Die Probleme der repräsentativen Demokratie, des neoliberalen Wirtschaftssystems, der Ausbeutung des Planeten sind evident – aber statt diese Probleme direkt anzugehen und nach einem System zu fragen und zu forschen, das Lösungen oder Alternativen anbietet, wird das Bestehende idealisiert und Kritik, so konstruktiv sie auch sein mag, oft mit rechtem Systemsturz verglichen.

Die Mitte ist ein Konstrukt

Die Logik ist die der [2][Mitte; eine politische Metapher], die in den 1990er Jahren ihre Wirkung entfaltete und seither die mediale Praxis und die politische Kommunikation prägt. Diese Mitte aber ist ein Konstrukt, ein Entwurf, keine geometrische oder gesellschaftliche Realität – der Diskurs verengt sich aus dieser Perspektive, die Handlungsoptionen schrumpfen, die Defensive regiert.

Was dann passiert, ist ein Denken im Negativen, ein Signum dieses Zeitalters – dabei sind die Kräfte der Veränderung, der Hoffnung, des Neuen längst da, sie sind aktiv, sie sind nur, würde William Gibson sagen, ungleich verteilt: Das betrifft vor allem drei der zentralen Fragen der kommenden Jahre, die wiederum eng miteinander verbunden sind – demokratische Regression, wachsende Ungleichheit und die alles überwölbende Klimakrise fordern entschiedenes Handeln.

Hier, beim Klima, ist ein „war-like effort“ notwendig, so sagen es die Vertreter*innen eines Green New Deals, wenn sie über die Veränderungen sprechen, die nun kommen müssen – heute, nicht in zwei, nicht in vier, nicht in zehn Jahren: Die Referenz dabei ist Franklin D. Roosevelt, amerikanischer Präsident, der die US-Wirtschaft in den 1940er Jahren innerhalb kurzer Zeit radikal umstellte, um die Welt vor dem deutschen Wahnsinn zu bewahren.

Es war eine gelenkte Wirtschaft, die Autowerke mussten Kriegsflugzeuge herstellen, Frauen wurden in das Arbeitsleben integriert, massive staatliche Investitionen trieben die Industrieproduktion voran, dem einen großen und gemeinsamen gesellschaftlichen Ziel, Hitler zu besiegen, wurde alles andere untergeordnet. Mit Erfolg. In der Klimakrise, sagen viele, die sonst kriegerische Metaphern scheuen, sind wir wieder in einer solchen existenziellen Situation.

Eine neue Konzeption von Staat

Nicht nur für zarte CSU-Ohren klingt dabei die Rede von der Planwirtschaft aber wie sozialistischer Wahn – historisch ist es jedoch kapitalistische Realität, denn so sehr Markt, wie es heute vereinfacht oft heißt, war der [3][Kapitalismus] so gut wie nie in seiner kurzen Geschichte.

Der Staat, den erst Reagan und Thatcher und dann eine Reihe von Ökonomen und Publizisten demontierten, hat eine entscheidende Funktion in den kommenden Jahren, nicht nur, wenn es darum geht, die Klimakatastrophe wenigstens ein wenig abzumildern.

Hier also fängt die Veränderung an, hier fügen sich die verschiedenen Elemente zusammen, in einer neuen Konzeption von Staat, der eine andere Gestalt hat, durchlässiger, offener und vor allem aktiver, im Sinne von Mariana Mazzucato, die vom unternehmerischen Staat spricht: Viel mehr als das Schrumpfreden von schwarzer oder nichtschwarzer Null bedeutet es eine grundsätzlich andere Art von Marktverständnis, um dem ruinösen Wachstumsrennen etwas entgegenzusetzen, und eine andere Art von Bürgerverständnis, das einen direkteren Zugang zur demokratischen Verantwortung voraussetzt – das sind die wesentlichen Elemente einer neuen Politik.

Das Dreieck von Klima, Markt und Demokratie wird dabei in jedem Moment durchdrungen und ergänzt durch die technologischen Kräfte, die auf alle drei Bereiche unterschiedlich stark einwirken – Big Data und künstliche Intelligenz sind elementar, etwa um eine effektivere Stromversorgung zu garantieren, Blockchain und Peer-to-Peer-Ökonomie ermöglichen andere, nichtextraktive Märkte, und die Digitalisierung schafft Raum für unmittelbare demokratische Partizipation und Repräsentation.

Ein offenes, demokratisches Denken

Technologie ist in vielem der Beginn einer neuen Art zu arbeiten und zu denken – das Dilemma ist, dass progressive Kräfte allzu oft das Denken in technologischer Innovation aufgeben, aus Skepsis gegenüber der möglichen Manipulation, die ja auch hinreichend vorgeführt wird von Facebook, Google, dem chinesischen Staat, oder aus prinzipieller Ablehnung.

Damit aber beraubt man sich einer realen Möglichkeit grundsätzlicher Veränderung. In der gegenwärtigen Situation, wo rasch gehandelt werden muss, ist das fatal.

Wenn ich mir für 2020 und für das kommende Jahrzehnt etwas wünschen dürfte, dann wäre es das: Dass ein offenes, demokratisches Denken über Technologie, Politik und Markt entsteht, ausgehend und ausgerichtet auf das eine Ziel, eine Gesellschaft zu konzipieren, die nachhaltig, gerecht und damit überlebensfähig ist. Die Klimakrise wäre damit sogar eine Chance, über die Grundlagen nachzudenken, wie wir leben wollen.

11 Jan 2020

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AUTOREN

Georg Diez

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