taz.de -- Sterbende Dörfer und Klimawandel: Träumen ist Arbeit

Die Spaltung von Stadt und Land, der Kapitalismus, und die Proteste der Gilets jaunes sind die Themen unsere Zeit. Sie alle hängen zusammen.
Bild: Klima- und Strukturwandel hängen zusammen

Ich sah den Turm der Kathedrale beim Abstieg durch die bewaldeten Hügel rings um Pradelles, eine braune Spitze, die aus dem Nest brauner Steine herausragte, eines der schönsten Dörfer des Landes, wie es offiziell heißt, ein Cevennendorf mit viel Vergangenheit, aber wenig Zukunft, wie sich herausstellte.

Was braucht es, dachte ich, als ich auf das Dorf zulief, um so eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, solche eine Kirche zu bauen, über viele Jahrzehnte hinweg? Was braucht es, um eine gemeinsame Geschichte zu schaffen, die so lange hält, die den Einzelnen übersteigt und die Gemeinschaft, das Städtchen, das Dorf trägt? Heute hängt an jedem zweiten oder dritten Haus ein Schild aus schmutzigem Papier, À Vendre, zu verkaufen.

Pradelles stirbt, es stirbt langsam und vor aller Augen, es stirbt an einer Zeit, die sich radikal verändert hat, keine Krankenversorgung, kein Zug oder Bus, kaum Läden, die Schule wird wohl bald schließen, weil es nicht genug Kinder gibt; es ist der Teufelskreis von Dörfern in ganz Frankreich, in ganz Europa, ein politisches Problem, wie nicht nur die Proteste der Gilets jaunes gezeigt haben, weil die Legitimation des demokratischen Systems infrage steht, wenn es einfach nicht mehr funktioniert für die Menschen.

Die Spaltung von Stadt und Land ist mehr und mehr eine politische Herausforderung für viele westliche Staaten, und das hat damit zu tun, dass die Voraussetzungen fehlen, die ein Leben auf dem Land möglich machen. Es hat aber auch damit zu tun, dass überhaupt die Vorstellung fehlt, was ein anderes, ein neues, ein inklusives, transformatorisches, alternatives Leben auf dem Land sein könnte.

Die Dringlichkeit des Augenblicks

Ein Dorf wie Pradelles stirbt, anders gesagt, auch deshalb, weil den Menschen hier eine Idee fehlt, so etwas wie ein Traum, wie aus dem Vorhandenen etwas Neues entstehen könnte. Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der hier vor 140 Jahren vorbeikam und dessen Pfad ich für eine gute Woche folgte, beschreibt das Pradelles seiner Zeit als eingebettet in eine „feine, belebte, atmende, rustikale Landschaft“; heute sieht man niemanden, nicht auf den Feldern, aber auch kaum in dem Dorf, das sich wie in sich selbst zurückgezogen hat, wie in Trauer.

Es ist die Abwesenheit eines Traums, glaube ich, die mit zu dieser Traurigkeit beiträgt; und der Mann, der mir im Dorf mit einem Packen Zettel entgegenkam, schien den gleichen Gedanken zu haben. Eine Freundin von ihm, sagte er, sei vor einer Weile wieder hierhergezogen, das Dorf, aus dem sie stammt, und sie habe kaum glauben können, wie leer, schwach und ohne Energie es sei – deshalb wollten sie einen Workshop veranstalten, an dem die Einwohner von Pradelles gemeinsam träumen sollen und die Gesellschaft dieses kleinen Dorfes neu erschaffen.

Ich musste bei dem Wort Traum an einen Artikel des britischen Politikers Ed Miliband im Guardian denken, in dem er beschrieb, warum bei der Klimakatastrophe Albtraumszenarien nicht weiterhelfen und es notwendig ist, „Träume zu malen“. Er greift dabei [1][den Green New Deal] auf, den die junge amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bekannt gemacht hat – eine umfassende Umwandlung der Gesellschaft, die ökologische und sozialen Herausforderungen gemeinsam angeht, Artensterben und Ungerechtigkeit, Extremwetter und extremer Reichtum, eine staatliche Großanstrengung, vergleichbar mit einer Mobilisierung im Kriegsfall, aber das ist auch die Dringlichkeit dieses Augenblicks.

Wir müssen den Menschen die Wahrheit sagen, was auf sie zukommt, schreibt Miliband, aber wir müssen auch die Geschichte erzählen, wie wir eine „gerechte, wohlhabende, demokratische Gesellschaft“ schaffen. Die Klimakrise eröffne die Möglichkeit, vielen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen – „aber wenn wir weiter nur Verzicht ohne Hoffnung anbieten“, dann „werden wir nicht erfolgreich sein“.

Ich glaube, Miliband hat recht, und ich glaube auch, dass beides zusammengehört, der Traum von Pradelles und der Traum einer anderen Welt angesichts der kommenden Klimakatastrophe. Die Gründe für beides sind ja ähnlich, eine kapitalistische Praxis, die wesentliche Strukturen und Lebenszusammenhänge auf dem Land umgestürzt hat und im Grunde des Leben abgesaugt hat, ohne, wie man heute sagt, die Externalitäten mitzubedenken, die Folgen also für den Einzelnen und die Gesellschaft – eine kapitalistische Praxis, die auch dafür verantwortlich ist, dass der Planet vor unseren Augen und durch unser Zutun zugrunde gerichtet wird. Die Lösung, eine Lösung wenigstens, so die Vermutung, könnte also darin bestehen, all das zusammenzudenken, das Lokale und den Kapitalismus beziehungsweise die Demokratie und das Lokale und das Klima.

Was also ist das spezielle Versprechen von einem Ort wie Pradelles? Es ist das eines anderen Lebens in einem anderen Rhythmus, mit mehr Genauigkeit und Genuss, mehr Nachhaltigkeit und mehr Natur – nach vorne gedacht, für eine Epoche, in der die Arbeit möglicherweise durch Machine Learning und Automatisierung immer weniger wird und die Frage nicht nur der freien Zeit, sondern ganz direkt des Sinns und Wesens des Menschen immer dringender. Für so eine Epoche braucht es Orte des gemeinsamen Lebens und Lernens, der Bildung, der Kulinarik, des hoffnungsvollen und dabei hedonistischen Verzichts.

Geht das? Ich sage nicht, dass Pradelles in eine Klima-Hippie-Slow-Food-Kommune verwandelt werden sollte (obwohl …) Ich sage nur, dass die existenziellen Fragen unserer Zeit zusammenhängen. Es scheint gerade schwierig zu sein, gegen den bequemen Pessimismus anzugehen oder sogar gegen einen tragischen Fatalismus. Wenn sich aber Demokratie und Markt über das Lokale neu definieren, dann ist eine andere Zukunft möglich.

Zum Treffen in Pradelles kamen dann leider erst mal nur zwei Leute; Träumen ist Arbeit.

29 Jul 2019

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AUTOREN

Georg Diez

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