taz.de -- Sammelband „Technopolis“: Geplünderte Urbanität

Wie verändern sich Kapitalismus und Städte? Das kann man gut im Silicon Valley rund um IT-Giganten wie Apple, Facebook und Google beobachten.
Bild: San Francisco: ein Obdachloser mit seinen Habseligkeiten im Einkaufswagen in der Market Street

Die Folgen der aktuellen Digitalisierung und Automatisierung werden extrem unterschiedlich eingeschätzt. Während Aaron Bastanis überraschend Tech-optimistische Publikation „Fully Automated Luxury Communism“ vom nahen Ende des Kapitalismus spricht und die Befreiung des Menschen im automatisierten Kommunismus erkennt, berichtet Katja Schwaller in ihrem nicht minder lesenswerten Sammelband „Technopolis“ von den [1][aktuellen urbanen Konflikten in der Metropolenregion San Francisco/Oakland/Silicon Valley].

In dem 100 Kilometer langen Bay-Bereich befinden sich die teuersten Flecken der Welt, wo selbst Softwareingenieure im Auto wohnen und die DrecksarbeiterInnen lange Strecken in miesen öffentlichen Transportmitteln zurücklegen müssen, während die Google-Busse an ihnen vorbeiziehen. Neuerdings entdecken Tech-Unternehmen wie Twitter oder Uber den Vorteil zentrumnaher Ansiedlungen in San Francisco und heizen den Wohnungsmarkt weiter auf. Eine Entlastung durch Verdichtung wird hier ebenso egoistisch wie legal verhindert.

Vormalige Schwulenquartiere sowie Nischen für hispanische und obdachlose Menschen werden zwangsenteignet und hyperkapitalistisch umverteilt. Tech-, Finanz- und Immobilienkapitalismus arbeiten Hand in Hand; es profitieren die ernährungsbewussten, hart arbeitenden und bleichen Tech-Zuzügler. Für ihre Lebensweise werden ganze Stadtviertel diskursiv wie ganz real umgekrempelt und neu formatiert.

Ein Sechstel der Bevölkerung in der Bay Area lebt in Armut

Insofern ist es kein Zufall, dass sich an beiden Enden der Google-Buslinien Protest regt und bis in die Kantinen der nur für die Privilegierten paradiesisch ausgestatteten Tech-Anwesen zieht. Der rundum versorgende Campus für die einen bedeutet campen am Straßenrand für die anderen: „Etwa ein Sechstel der Bevölkerung in der San Francisco Bay Area lebt in Armut oder leidet an Hunger und gesundheitlichen Problemen“, so der kritische Geograf Richard Walker.

Hier lässt sich das „Silicon Valley Paradox“ studieren, dass „ein Vollzeitjob in einer der firmeneigenen Cafeterien, wo die hoch bezahlten Angestellten der Tech-Industrie alles kostenlos bekommen, nicht mehr ausreicht, um zu Hause genügend Essen auf den Tisch zu bringen“. Das Verhältnis zwischen den Techies und dem Servicepersonal erinnert an Südstaatensklaverei: „Man rackert sich stets ab, während rund herum alles im Überfluss schwimmt. Und das war schon immer so“, so die aktivistische Stadtforscherin Ofelia Bello.

„Die Bay Area schwimmt auf einem ganzen Strom an Mehrwert, der rund um die Welt erwirtschaftet und dann von weltumspannenden Konzernen zurück in die Metropolenregion gepumpt wird“, schreibt Richard Walker. Die Tech-Kreuzschiffe aus rundum versorgter Arbeit, Wohnen und Freizeit zerspalten ihre angesteuerten urbanen Ankerplätze.

Mit der Erfindung des Siliziumchips in den 1950er Jahren entstand, was um 1970 Silicon Valley genannt wurde. Der astronautisch-militärische Komplex sowie die rechnerbasierte Fantasy-Filmindustrie beförderten mittels hoher staatlicher Subventionen die Computerchipindustrie.

„Staatliche Wohlfahrt für Konzerne“

„Staatliche ‚Wohlfahrt‘ für Konzerne“ nennt Katja Schwaller diese umfassende Standortpolitik. Heute prägen nicht mehr die ins chinesische Perlflussdelta umgesiedelten Fabriken, sondern Areale für internetbasierte „Ökosysteme“ sowie dazugehörige Kapitalanleger die Landschaft.

Urban Tech umfasst eine ganze Bandbreite von Zulieferindustrien: „Der Tech-Wald verfügt […] über ein dichtes Unterholz an unterstützenden Dienstleistungen“, von Anwaltskanzleien und Unternehmensberatern über Forschungsunternehmungen bis zur Immobilienindustrie, so Richard Walker.

Die Schweizer Forscherin und Übersetzerin Katja Schwaller trägt in ihrem Sammelband über ein Dutzend Beiträge zum Thema Bay Area sowie Ausblicke auf Europa zusammen, schaut auf Protestwandbilder und soziale Projekte und lässt in Interviews die politische Szene zu Wort kommen. So macht das „Anti-Eviction Mapping Project“ mittels Datenvisualisierung „Big Tech“ sichtbar und (an)greifbar: Wie erkennt man die „tieferliegende Geografie von Kreditvergabe und Spekulation“, und welche Rolle spielt dabei Airbnb, sesshaft in San Francisco und verantwortlich für zahlreiche Wohnraumumnutzungen?

Die Armen werden lästig

Die eigentlich zum Melden von Schlaglöchern gedachte Hotline für Beschwerden über „Beeinträchtigungen der Lebensqualität“ wird zunehmend genutzt, um die Polizei gegen lästig erscheinende Menschen aufzuhetzen. Zynischerweise gibt es hierfür nun eine neue App, sodass sich die Zahl der Meldungen in den letzten Jahren verneunfacht hat und zur zunehmenden Kriminalisierung von Armut beiträgt.

„Wir leben nun aber in einer Zeit, in der einer unserer größten kulturellen Schätze – Urbanität – geplündert wird“, schreibt die Queer-Aktivistin Sarah Schulman. Der Beitrag von Rebecca Solnit geht der langen Geschichte ethnisch-rassischer Verdrängungspolitik in Mission, Castro oder South of Market nach. Beim Coworking-Space Wework sind außer beim Empfang oder der Security schwarze Personen nur als Hip-Hop-Stars oder mit Angela Davis auf der Tapete präsent.

Gegen die Tech-Industrie macht sich vermehrt Widerstand breit; sei es gegen das Amazon-HQ2 in New York, den vergleichsweise kleinen Google-Campus oder den Amazon-Tower in Berlin. Die „Protestchoreografie“ des „strömungsübergreifenden Teilbereichskampfs“ (Stefan Niedriglöhner) gegen Google kam ohne formelle Organisation aus und bildet sich im Idealfall entlang der Konfliktlinien der Globalisierung. Im Vorwort wird die globale Reichweite der Technopolis bis zu den Minen im Südkongo oder den Sweatshopfabriken in Südchina schon einmal skizziert.

16 Nov 2019

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Jochen Becker

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