taz.de -- Situation der Kurden: 30 Millionen Menschen suchen Platz

Deutschland muss auf die Kurd*innen in Rojava setzen. Denn sie sind es, die im Nahen Osten für die Werte des Westens kämpfen.
Bild: Flyer der YPG in einer aufgegebenen Stellung in Tal Abjad, Syrien

Die Geschichte der Kurden (circa 30 Millionen Menschen) wird meistens von anderen entschieden. Jedes Mal aufs Neue werden sie von wirtschaftlichen, politischen, ökologischen Fragen im Nahen Osten ausgeschlossen. 30 Millionen Menschen haben keinen Platz auf der Landkarte. Ihre Stimmen zählen nicht einmal in den Ländern, denen sie untergeordnet sind: Iran, Irak, Syrien, Türkei.

Europa unternimmt immer noch nichts Adäquates gegen den völkerrechtswidrigen [1][Einmarsch der Türkei] in Rojava. Auch Deutschland nicht. Man sieht zu, wie türkische Phosphorbomben laut der kurdischen Nachrichtenagentur [2][ANF] Kinder töten und IS-Flaggen wieder gehisst werden.

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) meldete sich in einem Brief an Donald Trump und die US-Bevölkerung [3][zu Wort]: „Seit Jahren hatte das kurdische Volk […] einzig und allein um die demokratischen Grundrechte gebeten, die sie in den USA jeden Tag genießen: das Recht zu existieren, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre eigene Kultur zu praktizieren, als freie und gleichberechtigte Bürger an der Politik teilzunehmen.“

Die PKK (von Deutschland als Terrororganisation eingestuft, die Hisbollah übrigens nicht) ist ein Ergebnis türkischer Unterdrückung. Sie hat die Genfer Konvention unterzeichnet und bei verschiedenen Gelegenheiten Friedensverhandlungen gefordert. Sie haben „dies im Bewusstsein getan, dass der Krieg in dem Moment enden könnte, in dem die Kurden ihre Rechte bekommen. Diese Bemühungen wurden jedoch ignoriert.“

Ausgebürgert, enteignet, umgesiedelt

Auch im Syrien-Konflikt werden die Kurd*innen aus Verhandlungen ausgeschlossen. Sie sitzen nicht mit am Tisch, wenn in Brüssel, Sotschi oder Istanbul über ihre Zukunft diskutiert wird. Dabei sind sie es, die im Nahen Osten für die Werte des Westen kämpfen, nicht Europa oder Deutschland.

Um einem Genozid durch die türkische Armee und ihre islamistischen Söldner zu entgehen, gehen die Kurd*innen mit Assad einen Deal ein, der sie politisch vernichten wird. Für die Geschichtsschreibung bedeutet das: Für die einen wird Assad der Retter der Kurd*innen sein, für die anderen werden die Kurd*innen zu Verrätern. Beides ist falsch.

In der Syrischen Arabischen Republik, regiert von Assad und der Baath-Partei, war für die Kurden nie Platz. Sie sind Menschen zweiter Klasse, die oft nicht studieren, nicht heiraten durften, keine Grundnahrungsmittel und medizinische Versorgung erhielten. Sie wurden ausgebürgert, enteignet, umgesiedelt und arabisiert.

Rojava, die von Kurd*innen 2016 ausgerufene Selbstverwaltungszone, ist Assad und Erdoğan ein Dorn im Auge. Ein kleines Kurdistan im eigenen Land oder direkt an der Grenze akzeptieren sie nicht. Annegret Kramp-Karrenbauers Vorschlag, eine internationale Sicherheitszone zu errichten, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn Deutschland und Europa nicht auf Rojava setzen, werden auch sie am Ende als Verlierer hervorgehen.

23 Oct 2019

LINKS

[1] /Konflikt-in-Nordsyrien/!5635821
[2] https://anfdeutsch.com/kultur/experten-sind-sich-sicher-tuerkei-setzt-phosphorbomben-ein-14745
[3] https://anfdeutsch.com/kultur/brief-der-pkk-an-das-amerikanische-volk-und-praesident-trump-14756

AUTOREN

Ronya Othmann
Cemile Sahin

TAGS

Kolumne Orient Express
Kurden
Rojava
Kolumne Orient Express
Kolumne Orient Express
Schwerpunkt AfD
Kolumne Orient Express
Schwerpunkt Syrien
Kurden
Rojava
Schwerpunkt Syrien

ARTIKEL ZUM THEMA

Kurd*innen im Nahen Osten: Ohne Staat

Würde ein kurdischer Staat zur Destabilisierung beitragen? Quatsch. Die Region kann nur mit den Kurden stabiler werden.

Linke und der politische Islam: Gefährliches Schweigen

Der Islam gehört zu Deutschland, aber wie steht es mit dem Islamismus? Die Linke in Deutschland muss aufpassen, hier kein Tabu entstehen zu lassen.

AfD-Reise nach Syrien: Alles ganz supi hier

In Assads Syrien scheint sich die AfD sichtlich wohlzufühlen. Weil sich Antidemokraten und Autoritäre so gut verstehen?

Geschichte der Identitätspolitik: Es darf nicht geschwiegen werden

Minderheiten bedienen sich seit Jahrzehnten bei den Mitteln der Identitätspolitik, um ihre Rechte einzufordern. Das muss auch so bleiben.

Treffen zwischen Putin und Erdoğan: Machtpolitik vom Feinsten

In naher Zukunft wird wohl in Syrien nicht mehr geschossen werden. Die schlechte Nachricht: Frieden kehrt deshalb noch lange nicht ein.

Kurden in Berlin: Angst vor Übergriffen

In Berlin wird weiter gegen Angriffe der Türkei in Nordsyrien protestiert. Kurdische Berliner*innen rufen zu friedlichem Umgang auf.

Waffenruhe in Nordsyrien: Koalition der Weitsichtigen gesucht

Die Waffenruhe in Nordsyrien bietet eine Chance. Europa muss sie nutzen und den Kriegsparteien eine Kontrolle der geplanten Pufferzone anbieten.

Türkische Angriffe in Syrien: Erdoğans Vernichtungskrieg

Antikurdischer Rassismus prägt die Türkei seit jeher. Mit „berechtigten Sicherheitsinteressen“ haben die Angriffe auf Rojava nichts zu tun.