taz.de -- André Acimans Roman „Fünf Lieben lang“: Ein Buch voller Geheimfächer
Der Roman „Call Me By Your Name“ von André Aciman wurde in seiner Verfilmung ein Welterfolg. Nun legt der US-Autor ein neues Werk vor.
Er hat es wieder getan: André Aciman führt uns ins sonnentrunkene Italien – und erzählt vom Leiden und vom mit nichts vergleichbarem Hochgefühl des Verliebtseins, wie es nicht viele Schriftsteller*innen können. „Enigma Variations“ heißt dieser vierte, just auf Deutsch erschienene Roman von André Aciman im amerikanischen Original.
Und ja, es geht um die Variationen des Enigmas, also des Rätsels, das wir uns selbst sind, vor allem und immer wieder aufs Neue variiert in diesem Ausnahmezustand des unbedingten Verlangens, einen noch Fremden aufs Innigste kennenzulernen und die Welt mit seinen Augen zu sehen – so sehr perspektivenaustauschend, dass er uns quasi bei seinem Namen nennen könnte: „Call Me By Your Name“ hieß ja auch Acimans nicht-heterosexueller Coming-of-Age-Debütroman 2007, der ein Jahrzehnt später in seiner oscarprämierten Verfilmung mit Timothée Chalamet und Armie Hammer als Elio und Oliver über Nacht zu einem Klassiker des queeren Kinos wurde.
Titelsong war Sufjan Stevens Gitarrenballade „Mystery of Love“. Und um dieses Mysterium geht es auch diesmal wieder, auch wenn Aciman das Wort „Liebe“, das ihm sein deutscher Verlag in den Titel geschrieben hat, gar nicht verwendet – wie er im Übrigen auch das Wort „bisexuell“ nicht nötig hat, um seine neue Hauptfigur, den Ich-Erzähler Paul zu charakterisieren, der in fünf lose verbundenen Episoden mit teilweise großen Zeitsprüngen und in unterschiedlichsten Tonlagen (von hilflos-schwärmend bis scheinbar abgebrüht und krankhaft eifersüchtig) davon erzählt, nun ja, verliebt zu sein – über sowas von über beide Ohren, dass Vergleiche zum hypersensiblen Marcel in Marcel Prousts Weltliteraturwunder „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ naheliegen.
Auch Paul begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, wenn er zu Beginn des Buches zurück auf die sizilianische Insel kehrt, auf der er zehn Jahre zuvor als Zwölfjähriger die Augen nicht lassen konnte vom Holzhandwerker Giovanni, der ein Möbelstück der Eltern reparierte – und dabei ein geheimes Fach in dessen Inneren vorfand. Solche Geheimfächer hat Aciman in seinem Episodenroman (oder soll man sagen in seiner Shortstory-Sammlung?) gar viele installiert – auch in den späteren heftigen Begegnungen, dann in den U.S.A., mit Maud, Manfred, Chloe und Heidi, die sich über fünf Jahrzehnte hinweg erstrecken. Vielfach variiert, sehr zeitgeistig: die Angst davor, sich angreifbar und lächerlich zu machen mit einem ernstgemeinten, gänzlich unironischem Geständnis der Liebe. Deshalb beobachtet und (über-)deutet Paul lieber auch die kleinsten Gesten und Zeichen – bevor er sich überwinden kann und dabei immer wieder selbst neu kennenlernen darf und muss.
Aciman, selbst als Sohn jüdischer, französischsprachiger Eltern mit türkischen Wurzeln in Ägypten geboren, dann mit 15 nach Italien und mit 19 in die U.S.A. gezogen, weiß besser als viele andere, was fluide Identitäten bedeuten. Als in Harvard promovierter Komparatist hat er sich offenbar zudem bei den Besten (siehe Proust) ein Storytelling und eine Intensität abgeschaut und angeeignet, das die Kraft hat, einen heftig an der auch literarisch allzu oft kolportierten Konvention zweifeln zu lassen, dass die Liebe nur dann aufrichtig und wahr wäre, wenn es sie nur einmal gäbe pro Leben. Aciman-Fans (und wer bitte ist keiner?) dürfen sich zudem vorfreuen darauf, dass Ende Oktober auf Amerikanisch zumindest auch die Fortsetzung von „Call Me“ erscheint: „Find Me“. Nennen wir Aciman doch denjenigen, der sein Thema (und dessen Thema ihn) gefunden hat.
23 Sep 2019
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