taz.de -- Union Berlins Aufstieg in der Relegation: Hat Union genug Klasse?

Union ist aufgestiegen. Und feiern können sie auch. Aber kann der Ostklub mit den Großen mithalten? Der taz-Erstliga-Check.
Bild: Endlich erstklassig: Nina Hagen, die auch Sängern von Unions Stadionhymne ist

Fans:

Ein Wahnsinn das alles. Eine Leuchtrakete fliegt im hohen Bogen aus dem Gästeblock der deprimierten Stuttgarter aufs Spielfeld. Mitten in die Union-Fans, die direkt nach dem Schlusspfiff das Spielfeld gestürmt haben, um den ersten Aufstieg von Union Berlin in die Fußball-Bundesliga zu feiern. Ob jemand getroffen wird, ist unklar, aber höchstwahrscheinlich. Es ist aber auch egal gerade: Bärtige Männer mit harten Sprüchen auf ihren Jeanskutten weinen ungehemmt. Fremde umarmen sich. Unionerinnen grölen Aufstiegslieder. Ihre Stimmen sind nach 90 Minuten Dauergesang heiser. Ein oberkörperfreier Mann rutscht auf seiner ausladenden Bierwampe über den vom Aufstiegskampf zerfurchten Rasen. Der wird auch lange noch nach dem Abpfiff von den Fans zum Singen, Tanzen und Saufen genutzt.

Es gibt jetzt nur noch zwei Sorten von Anhängern: diejenigen, die ganze Rasenstücke ausreißen und in Bierbecher-Pappträgern verstauen, und jene, die Rollrasen als Perücke tragen. Einige pinkeln mitten in der Menge einfach im Stehen drauflos und lassen alles laufen. Andere fotografieren das. Die ganze Szenerie ist eingehüllt in Rauchschwaden von Pyrotechnik. Irgendwo dazwischen die Spieler und ihr Trainer Urs Fischer. Es riecht nach verbranntem Rasen.

Niveau: Wenn sie stubenrein bleiben, dann Champions League. (gjo)

Tradition:

Alte Försterei, 1990er Jahre, Regionalliga Nordost, 4.000 Zuschauer. Wessis verirrten sich nicht hierher, statt von Bayern München träumte man auf den Rängen von Spielen gegen den Erzrivalen BFC Dynamo. Die Abwicklung des Ost-Fußballs, Lizenzentzüge und Fast-Bankrott hatten Union in die Tiefen des Amateurfußballs gestürzt. Union war höchstens eine Adresse für Fußballromantiker – sexy oder kultig, das war der Verein ganz sicher nicht. Schlosser aus Oberschöneweide statt St. Pauli des Ostens.

Die Marketingoffensive des letzten Jahrzehnts, die Inszenierung als ganz besonderer Klub, sie ist auch ein Versuch, mit Traditionen zu brechen. Als Rebellen sehen sie sich gern bei Union, alternativ war die Mehrheit der Fanszene jedoch nie. Stolz auf die Vergangenheit waren sie in Köpenick aber immer. Auf den FDGB-Pokal 1968 genauso wie darauf, nicht von der DDR-Staatsspitze gefördert worden zu sein. Elf Jahre nach Hansa Rostocks Abstieg ist mit Union wieder ein echter Ostverein in der ersten Bundesliga.

Niveau: Inter-Toto-Cup. (epe)

Fußball:

Eigentlich glaubt ja niemand so richtig dran, dass Union in der Bundesliga mehr sagt als einmal kurz Piep. Sie sind aufgestiegen, weil alle anderen noch schlechter waren; „die rasseln sofort wieder durch“ ist das meist gehörte Urteil der letzten Tage. Dasselbe, was man über Fortuna Düsseldorf sagte, bevor sie, nun ja, Zehnter wurden. Und was macht eigentlich Augsburg seit beinahe zehn Jahren in dieser Liga? In der zutiefst mittelmäßigen Bundesliga haben die Zwerge sich festgebissen. Nicht abwegig, dass auch Union für ein paar Jahre die Zwergenzähne da reinhaut. Absteigen kann derzeit eh fast jeder – Hertha wäre auch mal wieder dran. Ein lässiger Trainer wie Urs Fischer im Abstiegskampf ist schon okay.

Und zumindest Stuttgart hat bereits gespürt, dass Union mauern kann wie ein Erstligist – immerhin blieben die Köpenicker während der Saison 14 Partien in Folge ohne Gegentor. Allerdings müsste sich die Mannschaft für die erste Liga zumindest offensiv verstärken. Wer sich ein Ende des jetzt schon nervigen Union-Hypes wünscht, dem sei gesagt: Unsere Hoffnung ist verfrüht. Die bleiben mindestens zwei Jahre. Und dann kommen sie wieder. Selbst der vor Kurzem noch klinisch tote SC Paderborn ist plötzlich (schon wieder!) Bundesligist. Ja, Freunde, Paderborn.

Niveau: Eineinhalbte Liga. (asc)

Stadion:

Der feuchte Traum aller Fußballromantiker und Nostalgiker: Die Alte Försterei ist eines der schönsten Stadien der Republik. Gelegen in der Wuhlheide können Groundhopper aller Länder hier noch den Fußballfan in seiner urtümlichen Form antreffen: stehend und singend. Im Gegensatz zu anderen hochgerüsteten oder ungemütlichen Fußballstadien, die entweder altes Nazimausoleum (Hertha) oder aber durchgestyltes Einkaufszentrum (München) sind, hat Union fast nur Stehplätze.

Dank einer exzellenten Musikauswahl des Stadion-DJs, fehlender Werbe-Jingles oder sinnentleerter Ratespielchen in der Halbzeitpause bleibt sogar die günstige Stadionwurst im Magen. Und als wäre das nicht schon genug: Die Fans haben sogar selbst beim Stadionbau mitgeholfen. Abzüge gibt es allerdings für die Kapazität und Verkaufsmodalitäten. Rein gehen nämlich nur 22.012 Zuschauer, und eine Dauerkarte gibt es seit dieser Saison nur noch für Mitglieder. Die vielen Stehplätze widersprechen zudem irgendeiner kruden Erstliga-Auflage, nach der alle Stadien einen deutlich größeren Anteil an Sitzplätzen haben müssen. Aber dafür wird sich eine Übergangsregelung finden lassen und Ausbaupläne gibt es auch schon. Nach ein paar Erstliga-Saisons soll die Alte Försterei dann 37.000 Plätze haben.

Niveau: Bundesliga. (gjo)

Promifaktor:

Vielleicht liegt es am satten Rot des FCU, dass vor allem Politiker von Linken und SPD dem Verein im Stadion die Daumen drückten. Von Bürgermeister Michael Müller über Innensenator Andreas Geisel bis zu Linken-Chefin Katina Schubert und diversen Abgeordneten waren am Montag viele dabei; manche sogar mit Herzblut. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) soll sogar auf dem Rasen gefeiert haben.

Der Prominenteste der politischen Fanriege ist Gregor Gysi, der unweit des Stadions lebt und in Treptow-Köpenick seinen Wahlkreis hat. Mehr Popfaktor brachte höchstens die schon verstorbene Schlagerikone Achim Mentzel. Der hat seinem Verein ebenso ein Lied geschenkt wie Maschine mit seinen Puhdys und natürlich Nina Hagen. Ihre Hymne gehört zu den schönsten im deutschen Fußball: „Immer weiter ganz nach vorn. Immer weiter mit Eisern Union.“

Niveau: Bundesliga. (epe)

Standortfaktor:

Berlin ist die Stadt, in der jedermann glaubt, sie könnte eigentlich mindestens fünf Top-Männerfußballklubs beherbergen, obwohl die Kohle maximal für zwei reicht. Und der Platz nicht mal für ein neues Stadion. Eigentlich ist Berlin auch gar keine richtige Fußballstadt. Aber jetzt muss sie das wohl werden, bei zwei Bundesligisten. Mindestens zum Derby. Da freut sich sogar Hertha.

Union hat sein Mobilisierungspotenzial weit über Köpenick hinaus; es soll ja eine Menge Leute geben, die keine Lust mehr haben, sich von jedem Bushaltestellen-Plakat erzählen zu lassen, dass man in Berlin alles sein kann, auch Herthaner. Jetzt kann man auch Unioner sein, ohne sich den SV Sandhausen angucken zu müssen. Willkommen, Erfolgsfans. Schon ewig will jeder Berliner Klub, der etwas auf sich hält, irgendwie die Stadt verkörpern, hip und retro und was nicht alles. Jackpot, Union. Der Standort ist jetzt schon europäisch.

Niveau: Europa League. (asc)

28 May 2019

AUTOREN

Alina Schwermer
Erik Peter
Gareth Joswig

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